5.
Meine erste Erziehung von Geburt an ging nämlich unter den Augen meiner Eltern vor sich und die Lebensweise in der Heimat war eine vom Pfade der Wahrheit abweichende. Daß ich einmal davon frei werden sollte, wagte wohl niemand zu erwarten und konnte auch ich nicht hoffen als unzurechnungsfähiger Knabe unter einem Vater, der dem Götzendienst ergeben war. Da verlor ich meinen Vater und wurde verwaist, und gerade das legte in mir bald den Grund zur Erkenntnis der Wahrheit. Damals nämlich wandte ich mich zum ersten Male dem heilbringenden und wahrhaftigen Worte zu, ich weiß nicht wie, geschah es mehr aus Zwang oder aus eigenem Antrieb. Was hätte ich denn auch mit vierzehn Jahren für eine Unterscheidungsgabe haben sollen? Indes begann von jener Zeit an dieses heilige Wort sogleich eine gewisse Anziehungskraft auf mich auszuüben, weil in ihm eben die allgemeine Vernunft der Menschheit zum vollen Ausdruck gelangt; diese Anziehungskraft äußerte es gleichwohl damals zum ersten Male. Darin nun erblicke ich (wenn auch nicht von jeher, so doch wenigstens jetzt, wo ich darüber nachdenke) ein nicht geringes Kennzeichen der heiligen und wunderbaren Fürsorge für mich, in der Fügung nämlich, daß dies gerade mit diesen Jahren zusammentraf, damit so einerseits alles, was dieser Altersstufe vorausging, insoweit es in Werken des Irrtums bestand, meiner Unmündigkeit und Unvernunft zur Last falle und das göttliche Wort nicht umsonst einer dafür noch nicht empfänglichen Seele überliefert werde, andererseits damit meine Seele, nachdem sie dafür empfänglich geworden, wenn auch nicht erfüllt mit dem göttlichen und reinen Wort, so doch wenigstens der Ehrfurcht gegen dieses Wort nicht bar sei, S. 226 sondern das menschliche und göttliche Wort1 gleichzeitig in mir zur Herrschaft gelange, dieses, indem es mit der ihm eigentümlichen und für mich unaussprechlichen Kraft Hilfe brachte, jenes, indem es Hilfe empfing. Diese Erwägung nun ist es, die mich gleichzeitig mit Freude und Furcht erfüllt, indem mich einerseits der Gedanke an diese Führung erhebt, andererseits aber die Furcht beschleicht, ich möchte trotz dieser großen Gnadenerweisungen gleichwohl mein Ziel nicht erreichen.
Doch ich habe mich unvermerkt bei diesem Teil meiner Rede zu lange aufgehalten. Ich möchte allerdings die wunderbare Führung zu diesem Mann ausführlich auseinandersetzen, trotzdem aber will ich mich am Anfang beeilen und kurz fassen um zu den folgenden Punkten zu gelangen, nicht als ob ich glaubte dem, der es so gefügt hat, den Tribut des Preises oder des Dankes und der Huldigung, so wie ich es schulde, darbringen zu können (ich müßte ja als anmaßend erscheinen, wenn ich diese Bezeichnungen gebrauchte und doch nichts Würdiges zu sagen wüßte), sondern weil ich mir vorkomme wie einer, der einfach eine Aufzählung macht oder ein offenes Bekenntnis ablegt oder wie man sonst die Sache zutreffender bezeichnen kann.
Meine Mutter, die von meinen Eltern allein zurückgeblieben war um für mich zu sorgen, beschloß mir jene allgemeine Ausbildung geben zu lassen, wie sie bei Knaben von edler Herkunft und Erziehung von jeher üblich war, und mich außerdem noch zu einem Redner in die Schule zu schicken, weil ich eben ein Redner werden sollte. Ich besuchte diese Schule auch wirklich, und die damaligen Sachverständigen versicherten, daß ich es in nicht gar langer Zeit zum Redner bringen werde. Ich dagegen kann das nicht gerade behaupten und möchte es auch nicht tun. Es bestand auch kein Grund für diese Annahme, auch fehlte es noch an jeder S. 227 Voraussetzung zu den Beweggründen, die mich auf meine gegenwärtige Laufbahn zu führen vermochten. Indes stand mir wachsam zur Seite der himmlische Erzieher und wahrhaftige Vormund, ohne daß meine Angehörigen daran dachten oder ich selbst darnach verlangte, und gab einem meiner Lehrer einen Gedanken ein — dieser Lehrer war lediglich damit beauftragt mich in der lateinischen Sprache zu unterrichten, nicht daß ich es darin hätte zur Meisterschaft bringen sollen, sondern damit ich auch in dieser Sprache nicht ganz und gar unbewandert sei; zufällig aber hatte er auch einige Kenntnis in der Rechtswissenschaft — dieses nun gab er ihm in den Sinn und ließ mich durch ihn ermuntern mir die Kenntnis des römischen Rechtes anzueignen. Und das tat der Mann mit großer Beharrlichkeit. Ich aber ließ mich überreden, mehr aus Gefälligkeit gegen den Mann als aus Vorliebe für jenen Wissenszweig. Er nahm mich also als Schüler an und begann den Unterricht mit großem Eifer. Dabei ließ er eine Äußerung fallen, die sich an mir im höchsten Grade bewahrheitet hat, die Kenntnis des Rechtes werde für mich die vorteilhafteste Ausstattung auf dem Lebenswege sein (so lautete wörtlich sein Ausdruck), sei es nun, daß ich als Anwalt in den Gerichtshöfen oder sonst als Redner auftreten wollte. Das waren seine Worte, und er bezog sich damit auf die menschlichen Verhältnisse; mir aber scheint es geradezu, daß er die Wahrheit vorhergesagt hat in einem Anflug von Begeisterung, die mehr von Gott kam als seinem eigenen Gedankenkreis entsprang.
Als ich nämlich halb freiwillig halb widerstrebend in den genannten Gesetzen Unterricht nahm, waren mir schon gewisse Fesseln angelegt, und die Stadt Berytus mußte den Grund und die Veranlassung dazu bieten, daß ich in meine gegenwärtigen Verhältnisse eingeführt wurde. Diese Stadt war nämlich nicht weit von meinem damaligen Aufenthaltsort abgelegen, hatte mehr römisches Gepräge und stand in dem Rufe, daß sie eine Pflanzschule der genannten Rechtswissenschaft sei. Aber auch diesen heiligen Mann haben andere Geschäfte von Ägypten, aus der Stadt Alexandria, wo er vorher S. 228 seine Heimat hatte, weggezogen und hieher2 geführt, wie wenn er mit mir zusammentreffen sollte. Ich weiß allerdings seine Beweggründe dafür nicht anzuführen und will gern darauf verzichten. Dazu aber, daß ich hieher kam und mit diesem Manne in Verbindung trat, bestand kein so zwingender Grund wie für mein Rechtsstudium; denn ich hätte auch in die römische Hauptstadt übersiedeln können. Wie nun wurde auch dieses bewerkstelligt? Der damalige Statthalter von Palästina nahm unerwartet meinen Schwager, den Mann meiner Schwester, zu sich, indem er ihn gegen seinen Willen vereinsamt von der Gattin wegriß, und versetzte ihn dorthin, damit er ihn im Amte unterstützen und mit ihm die Beschwerden der Regierung des Landes teilen sollte. Er war nämlich einigermaßen in den Gesetzen bewandert und ist es wohl auch jetzt noch. So reiste denn mein Schwager gemeinsam mit jenem ab, gedachte aber, in nicht allzu ferner Zeit seine Frau nachkommen zu lassen und zu sich zu nehmen, da er sich nur hart und ungern von ihr getrennt hatte, aber auch uns3 wollte er zugleich mit ihr kommen lassen und bei sich behalten. Wir gingen eben mit dem Plane um, eine Reise anzutreten — ich weiß nicht, wohin, jedenfalls eher anderswohin als an den genannten Ort — da trat plötzlich ein Soldat zu uns, der den Auftrag hatte unserer Schwester das Geleit zu geben und sie wohlbehalten ihrem Manne zuzuführen, zugleich mit ihr aber auch uns als Reisebegleiter mitzubringen. Damit würden wir unserem Schwager und ganz besonders unserer Schwester Freude machen, (weil sie sonst gegen den Anstand verstoßen und gegen die Reise einigen Widerwillen haben könnte,) ebenso auch seinen Hausgenossen und Verwandten, die viel auf uns hielten und uns außerdem noch manchen nicht unbedeutenden Vorteil erwirken könnten, wenn wir nach Berytus ziehen und dort unser Rechtsstudium durchmachen wollten. Somit wirkte alles bestimmend auf uns ein, die triftigen Gründe, die man hinsichtlich unserer Schwester angeführt hatte, unser S. 229 eigenes Fachstudium, und dazu noch der Umstand, daß der Soldat (denn auch ihn muß ich noch erwähnen) Anweisung auf mehr Staatsfuhrwerke mitbrachte, als man bedurfte, sowie eine größere Zahl von Reisekarten, mehr aus Rücksicht auf uns als auf unsere Schwester allein. Dies waren die Gründe, die in die Augen fielen; Gründe aber, die nicht so offen zutage lagen, aber darum nicht minder wirklich vorhanden waren, das war der Verkehr mit diesem Manne oder genau gesprochen der Unterricht, den wir durch ihn über das „Wort" empfangen und der Nutzen, den wir daraus für unser Seelenheil ziehen sollten. Diese Gründe waren es, die uns, obwohl wir blind dafür waren und nichts davon ahnten, dazu bestimmten, aber zu unserm Heile. Nicht der Soldat also, sondern ein himmlischer Reisegefährte, ein guter Begleiter und Wächter, er, der uns während unseres ganzen Lebens wie auf einer weiten Reise beschirmt, er hat uns von allem andern und auch von Berytus, um dessentwillen zumeist wir hieher zu eilen wähnten, abgelenkt, uns hieher gebracht und hier abgesetzt, indem er alles aufbot und in Bewegung setzte, bis er uns mit aller Geschicklichkeit an diesen Mann kette, der so viel Segen über uns brachte. Nachdem uns nun der himmlische Engel soweit geleitet hatte, übertrug er die Führung diesem Mann, und nun gönnte er sich wohl auch einige Ruhe, nicht aus Ermüdung und Überdruß, (denn das Geschlecht der himmlischen Boten kennt keine Ermüdung,) sondern weil er uns einem Manne übergeben hatte, der alle nur mögliche Umsicht und Fürsorge betätigen sollte.
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Eigentlich: die menschliche Vernunft (λόγος) [logos] und die göttliche; ein Wortspiel, das sich deutsch nicht gut nachahmen lässt, weil wir den göttlichen Logos nicht als Vernunft, sondern als Wort zu bezeichnen gewohnt sind. ↩
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nach Cäsarea in Palästina, wo Gregorius seine Rede hält. ↩
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Gregor und seinen Bruder Athenodorus. ↩
