KAPITEL V.
S. 100 Allein die fortwährenden Zusprüche meiner Mutter 1 hinderten mich, ihm diesen Gefallen zu erweisen oder vielmehr aus seiner Hand dieses Geschenk anzunehmen. Denn als sie mein Vorhaben merkte, da ergriff sie mich bei der Rechten und führte mich in das ihr vorbehaltene Gemach. Nachdem sie Platz genommen neben dem Lager, auf dem sie mich mit Schmerzen geboren, vergoss sie Ströme von Tränen und fügte Worte hinzu, die noch innigeres Mitleid erregten als die Tränen.
Unter Weinen und Klagen sprach sie folgendes zu mir: Nicht lange, mein Kind, war es mir nach dem Willen Gottes vergönnt, mich deines trefflichen Vaters 2 zu freuen. Auf die Geburtswehen, die ich um dich erduldet habe, folgte bald sein Tod, der frühe dich zur Waise, mich zur Witwe gemacht und mir damit zugleich die Leiden des Witwenstandes beschert hat, für die nur jene ein richtiges Verständnis haben können, welche selbst sie ertragen mußten. Keine Worte vermögen ja das Sturmesbrausen und die hochgehenden Wogen zu schildern, denen eine junge Frau ausgesetzt ist, die, eben erst aus dem väterlichen Hause getreten und unerfahren in den Geschäften der Welt, plötzlich von unsagbarem Schmerze betroffen wird und sich von Sorgen umringt sieht, die für ihr Alter und ihr Geschlecht viel zu schwer sind. Sie muß sich bekanntlich gegen Nachlässigkeiten von Seiten der Dienstboten wenden, ihren Bosheiten entgegentreten, hinterlistige Ränke von Verwandten vereiteln, die Bedrückungen und die Härte der Steuereinnehmer beim Bezahlen der Abgaben ruhigen Mutes auf sich nehmen. Hat aber der verstorbene Gatte bei seinem Hinscheiden gar ein Kind hinterlassen, so wird auch ein Mädchen der Mutter viele Sorgen bereiten, immerhin jedoch keinen Kostenaufwand und keine S. 101 bange Furcht verursachen. Ein Sohn hingegen erfüllt sie tagtäglich mit tausenderlei Ängsten und größerer Besorgnis, ohne zu gedenken der Ausgaben an Geld, die sie nicht scheuen darf, wenn anders sie ihn zu einem gebildeten Manne erziehen will. Aber trotzdem hat keine dieser Schwierigkeiten mich dazu verleitet, eine zweite Ehe 3 einzugehen und einen neuen Gatten in das Haus deines Vaters einzuführen; ich harrte vielmehr aus in Sturm und Drang und floh nicht vor dem eisernen Schmelzofen der Witwenschaft. In erster Linie wurde mir Hilfe durch die Vorsehung von oben. Es war mir aber auch in meiner traurigen Lage ein nicht geringer Trost, daß ich beständig in dein Antlitz schauen konnte und mir in dir das lebendige und aufs getreueste wiedergegebene Abbild des verstorbenen Gatten heranzog. Du hast mir deshalb als kleines Kind, da du noch nicht sprechen gelernt hattest, in einem Alter, in welchem die Sprösslinge den Eltern am meisten Freude machen, vielen Trost gewährt. Auch den Vorwurf kannst du keineswegs gegen mich erheben, daß ich zwar die Witwenschaft heldenmütig ertragen, aber ob deren Not dir das väterliche Erbgut geschmälert hätte, was, wie ich weiß, vielen von denen, die von dem Unglück der Verwaisung getroffen worden, widerfuhr. Ich habe vielmehr dein ganzes Vermögen ungekürzt erhalten, und doch habe ich es in keiner Beziehung an dem fehlen lassen, was zu deiner gediegenen Erziehung aufzuwenden nötig war. Mit meinem eigenen Vermögen und mit dem, was ich aus dem Elternhause mitgebracht, habe ich alle diese Ausgaben bestritten. Glaube ja nicht, daß ich das vorbringe, um dir etwa Vorwürfe zu machen; o nein, für all dies bitte ich dich nur um einen einzigen Gefallen, S. 102 laß mich nicht zum zweiten Male zur Witwe werden, wecke den jetzt eingeschlafenen Schmerz nicht von neuem wieder auf, sondern warte auf mein Ende. Voraussichtlich werde ich ohnehin schon nach kurzer Zeit sterben. Für die Jugend winkt noch die Hoffnung, ein hohes Greisenalter zu erreichen; wir Bejahrte aber haben nichts anderes mehr zu erwarten als den Tod. Hast du mich dann der Erde übergeben und meine Gebeine mit denen deines Vaters vereint, so kannst du weite Reisen unternehmen und ganz nach Herzenslust das Meer befahren; niemand wird dich dann daran hindern. Solange ich jedoch atme, verschmähe es nicht, mit mir zusammenzuwohnen; versündige dich nicht leichtsinnig und ohne Grund gegen Gott, indem du mich, die ich an dir nichts verschuldet, einem solchen Unglücke preisgibst. Wenn du Ursache haben solltest, gegen mich den Vorwurf zu erheben, daß ich dich in weltliche Sorgen verstricke und dich nötige, die Verwaltung meines 4 Vermögens zu übernehmen, dann achte nicht die Gesetze der Natur, nicht die dir zuteil gewordene Erziehung, nicht unser langjähriges Zusammensein, noch sonst irgendetwas anderes, sondern fliehe mich wie deinen hinterlistigen Feind. Setze ich aber alles daran, um dir soviel als möglich Muße zu verschaffen zu der von dir eingeschlagenen Lebensart, so möge, wenn nichts anderes 5, wenigstens dieses Band dich bei mir festhalten. Denn magst du auch sagen, daß Tausende dich gerne liebevoll aufnehmen würden, niemand wird dich im Genusse einer so großen Freiheit lassen wie ich. Kann es doch überhaupt niemand geben, dem dein Wohlbefinden ebenso sehr am Herzen liegen würde als mir.
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Anthusa (Sokrates, bist, eccl. VI, 3). ↩
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Er hieß Sekundus (Sökrates, ebendort) und war magister militum des Heeres in Syrien (Palladius, dialogus, cap. 5 bei Migne 47, 18). ↩
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Chrysostomus erzählt selbst (Ad viduam juniorem, cap. 2, Migne 48, 601), daß sein Lehrer (Libanius) andere gefragt habe, wessen Sohn er (Johannes Chrysostomus) sei. Als diese antworteten, er sei der Sohn einer Witwe, habe Libanius sich bei ihm selbst erkundigt nach dem Alter der Mutter und der Anzahl der Jahre ihrer Witwenschaft. Und da er zur Antwort erhielt, sie sei 40 Jahre alt und bereits seit 20 Jahren Witwe, habe Libanius voll Erstaunen laut zu den Umstehenden ausgerufen: Wahrhaftig, was für Frauen gibt es doch bei den Christen! ↩
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Ich halte mit Savilius und den meisten neueren Herausgebern wie Seltmann, Bengel, Nairn „τϖν πραγμάτων“ als die auch handschriftlich gut bezeugte (siehe Seltmann, S. 23 Anmerkung 7) Lesart dem Zusammenhange nach für die richtige. Montfaucon (Migne), Fronto, Höschel lesen „τϖν σϖν". ↩
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Z. B. die kindliche Anhänglichkeit und Dankbarkeit. ↩
