2.
In fast all seinen Briefen bemüht sich Paulus darzutun, daß unsere Bestimmung nicht etwas Neues ist, sondern von Anfang an es also feststand, und daß sie nicht aus einer Änderung des göttlichen Ratschlusses erfolgte, sondern also geplant und beabsichtigt war. Das aber zeugt von großer Fürsorge. - Was heißt: "In ihm hat er auserwählt?" Durch den Glauben an ihn, so meint er, hat Christus dieses Glück ermöglicht, schon vor unserer Entstehung, ja schon vor Grundlegung der Welt. Treffend gebraucht er den Ausdruck "Grundlegung"1 , um zu zeigen, daß sie von einer großen Höhe herab gegründet wurde2 . Denn groß und unaussprechlich ist die Erhabenheit Gottes, nicht dem Raume, sondern der Verschiedenheit des Wesens nach, und gewaltig der Abstand zwischen Geschöpf und Schöpfer. Mit Beschämung mögen dies die Häretiker3 hören. - Wozu aber hat er auserwählt? "Daß wir heilig und untadelig vor ihm seien". Damit du also nicht, wenn du das Wort Auserwählung hörst, den Glauben allein für hinreichend erachtest, fügt er auch das Leben hinzu. Deshalb, sagt er, und dazu hat er auserwählt, daß wir heilig und untadelhaft seien. Auch die Juden hat er einst auserwählt. Wie, so höre S. 163 ich fragen, war dieses Volk geartet, das er aus allen Völkern sich erkor? Wenn schon die Menschen bei der Auswahl das Beste erlesen, um so mehr Gott. Die Tatsache ihrer Erwählung ist ein Beweis von der Menschenfreundlichkeit Gottes wie nicht minder von ihrer Tugend. Denn jedenfalls hat er sie ihrer Erprobtheit wegen auserwählt. - Er hat uns zu Heiligen gemacht, aber wir müssen auch Heilige bleiben. Heilig ist, wer des Glaubens teilhaftig geworden; untadelhaft, wer ein makelloses Leben lebt. Aber was er verlangt, ist Heiligkeit und Makellosigkeit nicht schlechthin, sondern daß wir "vor ihm" als solche erscheinen. Denn heilig und untadelig, nämlich nach dem Urteil der Leute, sind [auch] diejenigen, welche übertünchten Gräbern gleichen, sowie jene, die in Schafspelzen einhergehen. Aber nicht Leute dieser Art will er, sondern solche, von denen der Prophet sagt: "und nach der Reinheit meiner Hände"4 . Welche Heiligkeit also? "Die vor seinen Augen." Er verlangt eine Heiligkeit, die das Auge Gottes schauen kann. - Nachdem er ihre pflichtgemäße Vollkommenheit betont, kommt er wieder auf die Gnade Gottes zurück. Denn nicht aus eigener Bemühung und treuer Pflichterfüllung geschieht die Auserwählung, sondern aus Liebe; freilich nicht aus Liebe allein, sondern auch aus unserer Tugend. Wenn nämlich aus Liebe allein, so müßten alle gerettet werden; wenn hinwiederum aus unserer Tugend allein, so wäre seine Ankunft und das ganze Heilswerk überflüssig. Es erfolgt aber weder aus Liebe allein, noch aus unserer Tugend allein, sondern aus beiden zusammen. "Denn er hat uns erwählt", heißt es; der Wählende aber weiß, was er wählt.
V.5: "Der in Liebe", fährt er fort, "uns vorherbestimmt hat."
Mit Recht; würde doch keinen die Tugend gerettet haben ohne die Liebe. Denn sage mir, was hätte es S. 164 Paulus genützt, was hätte er zustande gebracht, wenn nicht Gott ihn von oben herab rief und liebend an sich zog? Überhaupt, daß er so vieler Gnaden uns würdigte, war das Werk der Liebe, nicht unserer Tugend. Daß wir tugendhaft wurden, glaubten und zu ihm kamen, schon das hatten wir ihm zu verdanken, der uns rief; indessen zugleich auch uns. Daß er aber, nachdem wir zu ihm gekommen, uns solcher Ehre gewürdigt, so daß er uns alsogleich aus dem Stande der Feindschaft in den der Kindschaft versetzte, das war wirklich nur überschwengliche Liebe. - "Der in Liebe uns vorherbestimmt hat", sagt er, "zur Kindschaft durch Jesus Christus für sich..." Siehst du, wie es nichts gibt ohne Christus? Wie es nichts gibt ohne den Vater? Dieser hat vorherbestimmt, jener hat hingeführt. Er sagt dieses, um das Geschehene mit Nachdruck hervorzuheben, wie er auch anderswo schreibt: "Und nicht allein dies, sondern wir rühmen uns auch durch unseren Herrn Jesus Christus"5 . Denn groß sind an sich die uns geschenkten Gnaden; noch größer aber werden sie durch den Umstand, daß sie uns durch Christus geschenkt wurden, daß er nicht einen Knecht zu den Knechten sandte, sondern seinen eingeborenen Sohn selbst. "... nach dem Ratschluß seines Willens", fährt er fort. Das heißt: weil er es dringend wollte. Das ist, wie man zu sagen pflegt, sein Verlangen; denn überall bedeutet Ratschluß6 den vorausgehenden Willen. Es gibt nämlich noch eine andere Art des Willens. So z.B. ist es erster Wille Gottes, daß die, welche gesündigt haben, nicht zugrunde gehen; zweiter Wille, daß die, welche böse geworden, zugrunde gehen. Denn er straft sie nicht, weil er muß, sondern weil er will. Das kann man auch bei Paulus sehen, wenn er S. 165 beispielsweise sagt: "Ich wünschte, daß alle Menschen wären wie ich"7 ; und dann wieder: "Ich will, daß die jüngeren [Witwen] heiraten, Kinder gebären"8 . Unter Ratschluß versteht er also den ersten Willen, den dringenden Willen, den mit Verlangen gepaarten Willen, das, was bei uns - denn ich verschmähe es nicht, selbst einen gewöhnlichen Ausdruck zu gebrauchen, um auch dem schlichtesten Verstande deutlich zu werden - was wir "in den Kopf setzen" und "nach unserem Kopfe" heißen. Also: Dringend begehrt, dringend verlangt Gott unser Heil. Weshalb nun liebt er uns so? Warum hat er uns so gerne? Aus reiner Güte. Denn die Gnade ist ein Ausfluß der Güte. Deswegen, sagt er, hat er uns zur Kindschaft vorherbestimmt, weil er dies will und dringend verlangt, damit die Herrlichkeit seiner Gnade offenbar werde. "Nach dem Ratschluß seines Willens fährt er fort,
V.6: "zum Preis der Herrlichkeit seiner Gnade, mit welcher er uns begnadet hat durch seinen geliebten Sohn." Das heißt: damit die Herrlichkeit seiner Gnade offenbar werde, mit welcher er uns begnadet hat durch seinen geliebten Sohn.
