I.
8. Schäme dich also nicht des Zeugnisses für unsern Herrn und auch nicht meiner, der ich um seinetwillen Gefangener bin, sondern leide mir für das Evangelium durch die Kraft Gottes,
9. der uns erlöst und berufen hat durch heiligen Ruf, nicht nach unseren Werken, sondern nach seinem Rathschlusse und der Gnade, die uns verliehen ist in Christus Jesus von Anbeginn der Zeiten,
10. jetzt aber offenbar geworden durch die Erscheinung unsers Heilandes Jesus Christus.
I. Nichts ist schlimmer, als wenn Jemand göttliche Thaten mit menschlichem Maßstabe beurtheilt und mißt. Auf solche Art nämlich wird er weit weggeschleuder von jenem Felsen S. 266 und des Lichtes beraubt werden. Wenn schon Jemand, der die Sonnenstrahlen mit menschlichem Auge auffangen will, nicht bloß Das nicht bewerkstelligen und seinen Zweck nicht erreichen, sondern sogar Blendung erleiden und Schaden nehmen wird: so wird noch viel mehr Derjenige Solches erfahren, der mit seinem winzigen Verstande in jenes göttliche Licht blicken will und so das Geschenk Gottes verunehrt. Betrachte den Marcion, den Manes und Valentinus sowie Alle, welche die sonstigen Häresieen und verderblichen Lehrmeinungen in die Kirche Gottes hereingetragen haben, wie sie Göttliches mit menschlichem Maßstabe messend sich der Heilslehre geschämt haben! Und die Sache wäre dazu angethan, daß man sich ihrer nicht schäme, sondern rühme ich meine nämlich das Kreuz Christi. Denn Nichts ist ein so gewaltiges Zeugniß für die göttliche Barmherzigkeit, nicht der Himmel, nicht das Meer, nicht die Erde, nicht die Schöpfung des Weltalls aus dem Nichts, nicht alles Andere, wie das Kreuz. Deßhalb rühmt sich Paulus desselben mit den Worten: „Fern sei es von mir, mich zu rühmen, ausser im Kreuze unsers Herrn Jesus Christus.“1 Aber die Psychiker,2 die von Gott keine höhere Vorstellung haben als von den Menschen, kommen zu Fall und schämen sich. Deßhalb gab er oben dem Jünger und durch ihn allen Menschen die Mahnung: „Schäme dich also nicht des Zeugnisses für unsern Herrn!“ d. h. schäme dich nicht, daß du den Gekreuzigten predigst, sondern rühme dich dessen! An und für sich sind ja Tod, Gefängniß und Fesseln schändende Dinge; aber wenn Einer die Ursache davon beifügt und das Geheimniß recht betrachtet, dann wird er beide Dinge als Quelle des Ruhmes und Preises ansehen. Jener Tod hat ja die untergehende Welt gerettet, jener Tod hat S. 267 Himmel mit der Erde verknüpft, jener Tod hat die Tyrannei des Teufels gebrochen, die Menschen zu Engeln und Söhnen Gottes gemacht. Jener Tod hat unsere Natur auf den königlichen Thron gehoben. Diese Fesseln haben Viele bekehrt. „Schäme dich also nicht des Zeugnisses für unsern Herrn und auch nicht meiner, der ich um seinetwillen Gefangener bin, sondern leide mit für das Evangelium!“ d. h. wenn du auch selber Solches erdulden mußt, so schäme dich nicht! Daß der Apostel Solches andeuten wollte, erhellt auch aus dem oben Gesagten, nämlich: „Gott hat uns gegeben den Geist der Kraft, der Liebe und der Mäßigkeit.“ Und ebenso erhellt es aus dem Folgenden:
„Sondern leide mit!“ d. h. schäme dich nicht bloß nicht, sondern zeige es durch die That, daß du dich nicht schämst. Der Apostel sagt ferner nicht: „Zage nicht, fürchte dich nicht!“ sondern um den Timotheus mehr zu ermuthigen: „Schäme dich nicht!“ als gäbe es weiter keine Gefahr mehr, wenn nur Einer die (falsche) Scham überwindet. Das ist ja das einzig Lästige an der Scham, da man sie überwinden muß. Also schäme dich nicht, wenn ich, der ich Todte erweckt, tausend Wunder gewirkt, die Welt durchwandert habe, jetzt in Fesseln liege. Ich bin ja nicht ein Gefangener wegen eines Verbrechens, sondern um des Gekreuzigten willen. Wenn der Herr sich des Kreuzes nicht geschämt hat, so schäme ich mich auch nicht der Fesseln. Treffend erinnert der Apostel, indem er dem Timotheus die Mahnung gibt, sich nicht zu schämen, ihn vorerst an das Kreuz. Wenn du dich des Kreuzes nicht schämst, will er sagen, dann auch nicht der Fesseln. Wenn unser Herr und Meister das Kreuz trug, so können wir um so mehr Fesseln tragen. Denn wer sich Dessen schämt, was der Herr getragen, der schämt sich auch des Gekreuzigten selber. „Nicht meinetwegen,“ will der Apostel sagen, „trage ich diese Fesseln.“ Du hast nicht aus irdischen Rücksichten zu leiden, sondern Theil zu nehmen an dem Mei- S. 268 nigen, mitzuleiden für das Evangelium. Nicht mit dem Evangelium, als ob das in Bedrängnis wäre, sondern der Apostel fordert ihn auf, für das Evangelium zu leiden.3
Durch die Kraft Gottes, der uns erlöst und berufen hat durch den heiligen Ruf, nicht nach unsern Werken, sondern nach seinem Rathschlusse und der Gnade, die uns verliehen ist in Christus Jesus vor Anbeginn der Zeiten.
Weil das Wort: „Leide mit,“ unangenehm klang, tröstet andererseits der Apostel wieder den Timotheus, indem er sagt: „nicht nach unsern Werken,“ d. h. rechne nicht auf deine Kraft, sondern auf die Kraft Gottes bei diesem Leiden! Deine Sache ist es, zu wählen und zu wollen; Sache Gottes, Erleichterung und Rast zu verschaffen. Sodann weist er hin auf die Erweise dieser Kraft: erinnere dich, wie du erlöst und berufen wurdest. So heißt es anderwärts: „Nach seiner Kraft, die in uns wirket.“4 So hat es eine größere Kraft gebraucht, die Welt zu überzeugen, als den Himmel zu erschaffen.
Wie ist nun der Ausdruck gemeint: „berufen durch den heiligen Ruf“? Das will sagen, daß dieser Ruf die Sünder und Feinde Gottes zu Heiligen gemacht hat. Und Das nicht aus unserer eigenen Kraft, sondern diese Heiligung ist ein Geschenk Gottes. Wenn also Gott seine Macht bewiesen hat durch die Berufung und seine Güte dadurch, daß dieselbe eine Gnade und keine Schuldigkeit war, dann braucht man sich nicht zu fürchten. Denn wenn S. 269 er uns zu einer Zeit, wo wir die Erlösung bedurften, durch seine Gnade erlöst hat, obschon wir seine Feinde waren, wird er dann, wenn er uns wirken sieht, nicht weit mehr mitwirken?
„Nicht nach unsern Werken, sondern nach seinem Rathschlusse,“ d. h. Niemand hat ihn dazu gezwungen, Niemand ihm dazu gerathen, sondern aus eigenem Willen, von sich aus, durch seine eigene Güte angetrieben, hat er uns erlöst. Das will sagen: „nach eigenem Rathschluß durch die Gnade, die uns verliehen ist in Christus Jesus vor Anbeginn der Zeiten,“ d. h. ohne Anbeginn war dieses zukünftige Ereigniß in Christus Jesus vorgebildet. Das ist nichts Kleines, daß Gott Das von Anbeginn gewollt hat. Also ist es nicht die Frucht der Reue. Wie sollte also der Sohn nicht ewig sein? Auch er hat ja Das von Anbeginn gewollt.
Jetzt aber offenbar geworden durch die Erscheinung unsers Heilandes Jesus Christus, welcher den Tod bezwungen, das Leben und die Unsterblichkeit aber durch das Evangelium an’s Licht gebracht hat.
