3. Über die Quellen der dionysischen Schriften.
Während man früher die bei Dionysius einerseits und christlichen wie heidnischen Schriftstellern andrerseits zu Tage tretenden Übereinstimmungen dahin erklärte, daß die letztern eben aus ersterem geschöpft hätten, eine von der Verlegenheit erpreßte Annahme, läßt sich bei der nunmehrigen Datierung (5./6. Jahrh.) mit einer Fülle von Beispielen nachweisen, daß D. ebenso eine ganze Reihe von Vätern wie mehrere neuplatonische Schriftsteller gekannt und benützt hat. Er selbst gibt zwar als seine einzige und eigentliche Quelle nur die heiligen Schriften des Alten und Neuen Testamentes an und erwähnt nebenher einige Männer aus der apostolischen Zeit, von denen er ein paar kurze Zitate mitteilt 1. Tatsächlich macht er von der heiligen Schrift den ausgedehntesten Gebrauch, um seine theosophischen Entwicklungen mit dem inspirierten Worte Gottes zu bekräftigen oder zu illustrieren. Er erlaubt sich hiebei manche willkürliche und gezwungene Auslegung und fügt bei andern Gelegenheiten Stücke von verschiedenen Texten in eine Schriftstelle zusammen. Seine Vorliebe für einen gesteigerten Ausdruck verleitet ihn auch, dem schlichten Wort der Schrift mit eigenmächtigen Verstärkungsmitteln nachzuhelfen. Zahllos sind seine Parenthesen: „wie die Schrift sagt“; aber nicht weniger oft bildet ein heiliger Text, freilich ganz subjektiv umgeprägt, den Untergrund der Gedankenführung.
Unter den Vätern und kirchlichen Schriftstellern hat er besonders Clemens von Alexandrien, Origenes, Cyrillus von Jerusalem, Basilius, Gregor von Nazianz und Gregor von Nyssa, Chrysostomus und Cyrillus von Alexandrien benützt. Er kennt die Kirchengeschichte S. 17 des Eusebius, die Schriften der Apollinaristen und die griechischen Liturgien. Selbstverständlich darf er diese Quellen nicht nennen, weil er sonst den Schein eines Apostelschülers zerstören würde. Aber es ist ihm doch wieder nicht gelungen, alle verräterischen Spuren zu verwischen, obschon er sich dieses Kunstgriffes wohl bewußt ist (c. h. XV, 8) und durch Verdunkelung der Sprache, ungebräuchliche Titulaturen und Hinweise auf geheime Überlieferungen für Unkenntlichkeit der ausgehobenen Stellen zu sorgen sucht.
Ein ähnliches Verfahren beobachtet er gegenüber seinen neuplatonischen Vorlagen 2: Plotinus, Jamblichus, Porphyrius, Proklus, ebenso bei den Werken Philos, in denen er sich gleichfalls bewandert zeigt. Bei Benützung dieser Quellen war ihm noch größere Vorsicht geboten, weil ihnen das nichtchristliche Kolorit zu benehmen und eine Anpassung an die christliche Gedankenwelt zu vermitteln war. Daher häufig ein plötzliches Ausweichen und Abspringen vom zitierten Originaltext und Substituierung einer korrekten kirchlichen Wendung. Mehr als einmal ist jedoch vom neuplatonischen Gehäuse des Ausdrucks das eine oder andere Fragment stehen geblieben und starrt fremdartig in seine Umgebung hinein.
Einen beträchtlichen Bruchteil des Inhaltes der sämtlichen Werke bilden die subjektiven Erkenntnisse des Verfassers, zu denen er auf einem doppelten Wege gelangt. Der eine Weg ist die allegorisch-mystische Erklärung der bildlichen Ausdrücke der heiligen Schrift und der symbolischen Zeichen, Zeremonien und Gegenstände des christlichen Kultus. D. hat sich hier die Allegorese eines Origenes und eines Gregor von Nyssa zum Vorbild genommen. Er geht in die einzelnsten bildlichen Elemente und Nebenzüge, Beiwörter S. 18 und Metaphern ein, um aus der bildlichen, sinnfälligen Umhüllung den geistigen Gehalt herauszuschälen). „Das Ähnliche im Unähnlichen“, die Analogien des Höheren, die im Niedern wiederkehren, aufzudecken, das Unsichtbare im Spiegel des Sichtbaren nahezurücken, das ist seine Wonne und seine ihm wohl bewußte Stärke (c. h. II, 4. XV, 5. u. 8). Einen wahren Tummelplatz derartiger mystischer Deutungen, vom grübelnden Verstande erzwungen, bietet das letzte Kapitel der „himmlischen Hierarchie“. Die „symbolische Theologie“, welche D. dem Titus schickt (ep. IX, 6), ist nach des Verfassers eigenem Urteil eine „vortreffliche Auffinderin“ aller symbolischen Sachen.
Der andere Weg zu neuem Gedankenmaterial ist der etymologische. D. sucht insbesondere in der Abhandlung von den „göttlichen Namen“ und in der „himmlischen Hierarchie“ aus dem Etymon des betreffenden Gottes- oder Engelnamens eine Reihe von Bestimmungen zu erschließen, die sich indessen vielfach berühren und nur synonyme Umschreibungen ein und desselben Begriffes sind. Er sagt selber c. h. VII, 1: „Jeder Name der himmlischen Geister enthält einen Aufschluß über jegliche Eigentümlichkeit.“ Demgemäß reproduziert er nicht bloß die naiven Etymologien, wie sie im Kratylus Platons vorkommen, sondern beutet auch die Ausdrücke θρόνοι, δυνάμεις, κυριότητες u. s, w. möglichst ergiebig aus. Selbst die hebräischen Worte Seraphim und Cherubim erklärt er nach der griechischen Übersetzung ἐμπρησταί und χύσις γνώσεως: in breiter Ausführung der Nominalbedeutung. Mancherlei naturwissenschaftliche Reflexionen machen sich nebenher geltend, wenn er z. B. von den Eigenschaften des Feuers, des Lichtes, der Wärme, des Schalles spricht.
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Dazu gehören Clemens, Simon, Elymas, Justus, Bartholomäus, Karpus, Timotheus, Titus, Johannes. D. nennt auch einen heidnischen Philosophen Apollophanes; es ist wohl möglich, dass er diesen Namen aus Eusebius H. E. 6, 19 (M. s. gr. 20, 568) entnommen hat. ↩
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Inwieweit D. unmittelbar aus Plato schöpfte, ist schwer zu bestimmen, weil die neuplatonische Literatur alle bemerkenswerten Gedanken, Bilder und Wendungen des Altmeisters reproduziert. Eine wörtliche Uebernahme aus Gorgias 470 C findet sich im Epilog zu d. d. n. 13, 4: μηδὲ ἀποκάμῃς φίλον ἄνδρα εὐεργετῶν. Aber solche Floskeln waren zur Zeit des D. bereits als traditionelles Gut aus der klassischen Zeit im Kurse. ↩
