II. Die religiös-gläubige Einstellung des Dionysius
Mehr als einmal ist Dionysius ein Neuplatoniker in christlichem Gewande genannt worden. Mit mehr Recht würde man ihn als Christ im neuplatonischen Philosophenmantel bezeichnen. Der Kern seiner Lehre, die vor allem aus DN. zu entnehmen ist, umfaßt die wichtigsten Stücke der Offenbarung: Trinität, Erschaffung, Erlösung, Heiligung, kirchliche Einrichtungen und Kultakte in christlichem Sinne; er ist voll sittlichen Ernstes und entbehrt stellenweise nicht einer edlen, frommen Empfindung. Es bleibt jedoch unbestritten, daß Dionysius allerdings in zahllosen Wendungen, philosophischen Gedanken und Termini mit den Neuplatonikern, insbesondere mit Proklus, übereinstimmt.1 Im Nachstehenden sei kurz dargetan, wie Dionysius an andern Steilen gleichwohl gegen die antik-heidnische Philosophie Stellung nimmt. Daß manches in seiner Theologie und Mystik auch sachlich nicht korrekt kirchlich ist und in neuplatonischer Färbung schillert, ja hin und wieder erst durch Vergleichung mit Proklus verständlich wird, sei gerne zugestanden. Die Annahme, daß der Autor aufrichtig dem tiefern Eindringen in das Christentum oblag,2 nachdem er vorher bei den Neuplatonikern bzw. bei Proklus in Athen in die Schule gegangen, wird nicht länger abzuweisen sein. Wenn es seine Absicht war, „Hellenismus und Christentum in höherer Einheit zu verbinden“, so kann man eine gewisse Großartigkeit des Versuches nicht verkennen. Man darf hinzufügen, daß in den verschiedenen Abhandlungen einschließlich der Briefe ein merklicher Unterschied der Darstellung hervortritt. In DN. schwebt der Verfasser in den höchsten Regionen der Spekulation, nachdem er in CH. in der Engelwelt (Henadensystem!) verweilt hat: in EH. spricht er ganz faßlich von konkreten, anschaulichen Einrichtungen der Kirche und wird praktisch nüchtern. Man vernimmt hier und in den Briefen, zumal S. 11 Ep. VIII, die autoritative Sprache eines Kirchenobern. Die kurzgefaßte MTh. ist nur ein Nachhall aus den frühern Werken. Legt sich nicht die Vermutung nahe, daß Dionysius im Laufe der Jahre und von äußeren Lebenlagen beeinflußt im Ringen nach christlicher Erkenntnis eben auch Fortschritte gemacht und die neuplatonische Hülle mehr und mehr abgestreift hat?3
Ein Punkt der kirchlichen Lehre, der vor allem als absurd von den Heiden zurückgewiesen wurde, ist der Glaubensartikel von der Auferstehung der Toten. Dionysius bekennt sich unumwunden zu dieser Wahrheit und ist sich des Gegensatzes zu den antiken Philosophen wohl bewußt. Man beachte die schöne Stelle unten DN. VI 2 und ferner EH. VII, I 1: „Die reinen Leiber der heiligen Seelen, welche … in den göttlichen Kämpfen der Seele mitgestritten haben, werden ihre entsprechende Auferstehung erlangen. Denn als Glieder Christi mit den heiligen Seelen, mit denen sie in diesem Leben verbunden waren, (wieder) vereinigt, werden sie … die ewige und glückselige Ruhe finden.“ Töricht sind die Meinungen der Außenstehenden über das Schicksal der Menschen nach dem Tode. Die Verworfenen finden ein jämmerliches, hoffnungsloses Ende (Sap. c. 5). In Glück und Frieden erstrahlt das künftige Leben der im Herrn Entschlafenen. Deshalb freuen sich die christlichen Angehörigen über die am Ziele angelangten Sieger und beten, daß auch sie selber zur gleichen Ruhestätte gelangen (§ 3). — Freudiges, zuversichtliches Bewußtsein, die Wahrheit im heiligen Glauben zu besitzen, klingt uns aus DN. VII 4 entgegen. Das göttliche Wort ist die einfache und wahrhaft wirkliche Wahrheit, die den Gegenstand des göttlichen Glaubens bildet, die unerschütterliche Basis der Gläubigen.4 Wenn man die ganze, unten übersetzte Stelle liest, wird man unwillkürlich an das Bekenntnis des heiligen „Philosophen“ und Märtyrers Justinus erinnert, der nach langem Umherirren in den verschiedenen philosophischen Schulen endlich im Christentum die unerschütterliche Sicherheit des S. 12 Glaubens gewann (Dial. c. 2—8; Apol. 2, 12). In eindrucksvollen Worten preist Dionysius die Großtaten Gottes, wie er sich des gefallenen Menschengeschlechtes erbarmt und durch die Menschwerdung Christi uns Befreiung von der doppelten Tyrannei des Teufels und der bösen Leidenschaften, neues Leben in einem tugendhaften Wandel und Frieden in vertrauter Gemeinschaft mit Gott gewährt hat. Was sich unten DN. I 3 in summarischer Kürze hierüber findet, erfährt EH. III, III 11 eine weitere Ausführung, die innerliche Ergriffenheit verrät. Man mag sofort die schöne, warme Schilderung der göttlichen Güte unter DN. IV 4 heranziehen, um sich in religiöser Erbauung zu bestärken. —
Das tiefste Geheimnis des Christentums, die Lehre von der heiligsten Dreifaltigkeit und Dreieinigkeit, beschäftigt das Denken des Dionysius in hervorragender Weise. Man lese seine Belehrungen über die „geeinte und die geschiedene Theologie“ (unten DN. II 1—11). Er unterscheidet ganz korrekt die Attribute, welche der göttlichen Natur und den drei Personen gemeinsam zukommen, von denen, die jeder einzelnen Person gemäß dem innertrinitarischen Leben beizulegen sind. — Die ganze Aszese und Mystik gründet Dionysius auf den Fundamentalsatz von der Wiedergeburt in der Taufe zu einem neuen, göttlichen Leben.5 — Wie weit entfernt sich Dionysius dann von platonischen Gedankengängen, wenn er den Trost der christlichen Hoffnung schildert, den wir aus den heiligen Schriften schöpfen! DN. I 4: „Immerdar werden wir mit dem Herrn zusammen sein, mit den heiligsten Schauungen seiner sichtbaren Theophanie gesättigt, die uns mit den lichtesten Strahlen wie die Jünger auf dem Tabor umglänzen wird.“ Sicherlich folgt Dionysius nicht bloß einer literarischen Gepflogenheit neuplatonischer und christlicher Schriftsteller, wenn er in der Einleitung seiner Schriften und auch sonst um den göttlichen Beistand bittet. Das schöne Ge- S. 13 bet zum heiligsten Sakrament EH. III, III 2 kommt ihm offenbar aus der Tiefe seiner Seele.6 Einen freundlichherzlichen Ton schlägt Dionysius an, wenn er EH. II, II 2 f. die Vorbereitungen zur Taufe, die Bestellung eines Paten, der mit einer Mischung von Freude und Furcht den Taufkandidaten empfängt, die väterliche Liebe des taufenden Bischofs, die freudige Anteilnahme des Klerus und der ganzen Gemeinde schildert. Erinnerung an Selbsterlebtes klingt als Unterton aus der ganzen Darstellung.
Wie haben wir es mit der CH. IX 3 eingeflochtenen Bemerkung zu halten: „Auch wir haben aus dem Heidentum heraus das Auge zu jenem unermeßlichen und überströmenden Ozean des göttlichen Lichtes erhoben, der für alle zu gütiger Mitteilung ausgebreitet ist“? Man muß sich wieder gegenwärtig halten, daß unser Pseudo-Dionysius als der von Paulus bekehrte Heide Dionysius (Apostg. 17, 34) gelten will, wie er denn auch als Heide in Heliopolis gemeinsam mit Apollophanes die Sonnenfinsternis beim Tode Christi beobachtet haben will und als bekehrter Heide den Vorwurf hörte, die heidnische Wissenschaft gegen die Heiden selbst zu verwenden (Ep. VII 2).
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Vgl. das oben erwähnte Werk von Hugo Koch. ↩
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Vgl. H. Weertz, „Die Gotteslehre des sog. Dionysius Areopagita“, in „Theologie und Glaube“ IV (1912) 637—659; 749—760; VI (1914) 812—831. ↩
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Vgl. Näheres hierüber in „Scholastik“ III. ↩
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Ὁ θεῖος λόγος … ἡ ἁπλῆ καὶ ὄντως οὖσα ἀλήθεια, περὶ ἣν … ἡ θεία πίστις ἐστίν. ↩
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τὸ εἶναι θείως infolge einer θεία ἀπότεξις θεογενεσία ἀναγέννησις, θεία γέννησις vgl. EH. I 1; II 1; II, III 5; III, III 6; III, III 11; IV, III 10. 11; V, I 5. Ein näheres Eingehen auf die „Aszese und Mystik“ des Dionysius siehe „Scholastik“ II (1927) 161—207. ↩
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ὦ θειοτάτη καὶ ἱερὰ τελετὴ, τὰ περικείμενά σοι συμβολικῶς ἀμφιέσματα τῶν αἰνιγμάτων ἀποκαλυψαμένη, τηλαυγῶς ἡμῖν ἀναδείχθητι κτλ. ↩
