Nachträgliches zu Ps.-Dionysius und Severus von Antiochien
Zu meiner in der Scholastik (III S. 1—27; 161—189, VII S. 52—67) vertretenen Hypothese, daß Ps.-Dionysius mit dem monophysitischen Patriarch Severus von Antiochien identisch sei, mögen hier noch einige Bemerkungen beigegeben werden, die sich aus der Vergleichung des Briefes an Demophilus mit Severus-Homilien von selbst aufdrängen.1 Zunächst paßt die Zeit, in der das Korpus der Areopagitika mit den zehn Briefen erschien, vorzüglich in die zeitlichen und räumlichen Verhältnisse, in denen Severus als geschichtliche Persönlichkeit hervortrat. Die Tendenz des Briefes entspricht den Anschauungen des Severus, der in seinen Homilien die Kompetenzen der kirchlichen Stände gut im Auge behielt und zu wahren bestrebt war. Eine ausgesprochene Milde und Teilnahme für Arme, Gedrückte und Notleidende wird man Severus gerne zuerkennen, wenn man z. B. hom. 84 über den barmherzigen Samaritan liest. Zugleich steht ihm aber auch ein energischer Abwehrwille zu Gebote (vgl. hom 87, S. 88). Nicht minder weiß Dionysius im Demophilus-Brief vortrefflich S. 170 die Sprache des Mitleids neben einer herben Diktion zu verwenden und das Ideal der göttlichen Güte zu preisen. Beachtenswert dürfte es erscheinen, daß Severus hom. 90, S. 121, eine zweifache Einteilung der himmlischen Geister erwähnt, les ordres (τάξεις, τάγματα) und les choeurs, was wohl auf die dionysischen drei Triaden und neun Chöre zu beziehen ist. In der gleichen Homilie des Severus wird (S. 120 f.) die innige Anteilnahme der Cael. Hierarchia an den heiligen Vorgängen der Eccles. Hierarchia, zunächst an der Tauffeier, gelehrt — ein harmonisches Zusammenwirken, das bei Dionysius als fundamentales Moment wiederkehrt. Auch Severus hat eine Vorliebe für etymologische Erklärungen gleichwie Dionysius. Wenn uns bei diesem die Erklärung von Seraphim, Cherubim u. a. geboten wird, so gibt Severus seine linguistischen Kenntnisse zum Besten, z. B. hom. 84, S. 8, über den Monatsnamen „Januarius“, der von ianua abzuleiten sei, oder über „Samariter“, das nach dem Hebräischen „Wächter“ bedeutet hom. 89, S. 109. Eine auffallende Wendung bei Dion. ep. 8 M. 3, 1097: „Wollen wir uns nicht selbst das Schwert in die Brust stoßen“, kehrt wieder bei Severus hom. 90, S. 157. Beidemal im übertragenen Sinn. Daß in den Homilien des Severus durchweg die Lehre von der einen Natur in Christus verteidigt wird, ist selbstverständlich. Im Briefe an Demophilus kommt, dem Zweck des Schreibens entsprechend, diese Irrlehre nicht zum Ausdruck. Beachtung verdient hingegen das Gleichnis von der echten und gefälschten Münze mit dem Bild des Königs, das wir bei Dionysius in einem andern Brief (ep. VII M. 3, 1077) und bei Severus hom. 90, S. 152 f. verwendet finden, um die wahre und falsche Lehre zu kennzeichnen. Bei Severus ist das Verfahren, wie man eine Geldmünze prüfend in Empfang nimmt, echt volkstümlich dargestellt. Unverkennbare Ähnlichkeit zeigt auch die Ausmalung des Bildes vom Felsen in der bewegten Flut, wenn schon die Anwendung des Gleichnisses verschie- S. 171 den ist. Vgl. Dionysius DN. M. 3. 680 und Severus hom. 87, S. 76 f. Von der beiderseitigen gleichen Terminologie θεωρία, θεολόγοι, θεολογία, μυσταγογία usw. zu reden erübrigt sich. Notiert zu werden verdient schließlich, daß ein Wort des heiligen Ignatius von Antiochien bei Dionysius DN. 4, 12 neben drei Stellen der heiligen Schriften ehrenvollst erwähnt wird: Γράφει δὲ καὶ ὁ θεῖος Ἰγνάτιος· Ὁ ἐμός ἔργος ἐσταύρωται (ad Rom. 7, 2). Dionysius ist sonst mit Bezeichnung der Namen, ausgenommen die in der Hl. Schrift vorkommenden, äußerst zurückhaltend. Nun ein Blick auf Severus hom. 84, S. 22 f. Hier werden die beiden großen Lehrer Basilius und Gregor von Nazianz mit dem heiligen Ignatius in rühmlichste Verbindung gebracht, sie hätten ihre Augen immer himmelwärts gerichtet nach dem Beispiel des Gottesträgers (θεοφόρος) Ignatius. Weiterhin heißt es von ihnen (nach Brières Übersetzung): Ils restent et demeurent constamment dans les beautés supérieurs, ils habitent avec les esprits incorporels et ils sont à la fois en dehors de la chair et dans la chair. Prends-moi, en effet, pour preuve de ces (dispositions) les paroles de celui qui était véritablement revêtu de Dieu (θεοφόρος). Daran schließen sich die Worte des heiligen Ignatius aus dem Briefe ad Trallianos V 2: Καὶ γὰρ ἐγὼ οὐ καθότι δέδεμαι καὶ δύναμαι νοεῖν τὰ ἐπουράνια καὶ τὰς τοποθεσίας τὰς ἀγγελικὰς καὶ τὰς συστάσεις τὰς ἀρχοντικὰς, ὁρατά τε καὶ ἀόρατα. Klingt das nicht wie eine Einladung für einen Spätern, eine „Himmlische Hierarchie“ zu schreiben? Ps.-Dionysius hat sich tatsächlich dieser Aufgabe unterzogen und seine Caelestis Hierarchia schon vor seinem Hauptwerk DN. geschrieben. Und wie aus seiner Verweisung auf CH. in DN. 4, 2 hervorgeht, hat er die Arbeit mit Vorliebe ganz ausführlich skizziert (M. 3, 696). In der Ecclesiastica Hierarchia bemüht sich Dionysius wie kein anderer die Standesunterschiede der Bischöfe, Priester und Diakone herauszustellen und mystisch zu deuten. Damit ver- S. 172 gleiche man die scharf umrissene, abgestufte Stellung, welche Ignatius den Bischöfen, Priestern und Diakonen im Briefe an die Magnesier 6, 1 und an die Traller 3, 1 zuweist. Erinnern wir uns auch, daß Severus in Antiochien die (angemaßte) Patriarchenwürde bekleidete, eben in jener Stadt, in welcher er Ignatius als seinen Vorgänger auf dem Patriarchenstuhl betrachtete. — Allerdings schwache Verbindungsfäden zwischen Ps.-Dionysius und Severus, aber im Hinblick auf mancherlei andere Momente nicht zu ignorieren.
Eine Erwägung anderer Art! Zeit- und Raumschranken sind nach dem jetzigen Stand der Dionysiusforschung anerkanntermaßen wahrlich eng genug um den großen „Unbekannten“ der Jahrhunderte gezogen, um ihn näher zu fassen: Wende des 5. zum 6. Jahrhundert und Syrien (bzw. Palästina). Aus den Schriften selbst geht unbestreitbar hervor, daß ihr Verfasser ein ungewöhnlich begabter Geist ist, philosophisch nach Platon und Neuplatonismus gebildet, in der kirchlichen Literatur, sowohl in der Hl. Schrift wie in der Kenntnis der Väter, vorzüglich bewandert, scharfsinnig und kühn in der Verschmelzung des Antiken mit dem Christentum, in der mystischen Deutung der liturgischen Formen und Geheimnisse ernst und religiös, dem praktischen Leben mit offenem Auge zugewendet! Das ist eine historische Größe, die über die Zeitgenossen jener kurzen Periode hinausragt. Wenn irgendein anderer als Severus alle die genannten Vorzüge in sich vereinigte, dann müßte er doch von den rastlosen Forschern unserer Tage längst entdeckt worden sein, da er ja leibhaftig unter den Menschen von damals lebte. Nun paßt aber, soweit wir wissen, auf keinen andern Mann das ganze Ensemble, dessen wir immerhin sicher geworden sind. Also wird wohl Severus der „Ps.-Dionysius“ sein und bleiben.
-
In Betracht kommen hier die Homilien 84—90 in der Patrologia Orientalis t. XXIII fasc. 1, ins Französische übersetzt von Maurice Brière. Paris 1932 ↩
