Cap. VI.
Ich frage nun, ob mein Verhalten als verwerflich, oder als neu, oder als unnütz unter Anklage gestellt wird? Ist das Erstere der Fall, so sind die heiligen Gelübde Aller, so ist auch das Leben der Engel verwerflich, während doch dereinst nach der Auferstehung alle glorreich Verklärten daran Theil nehmen. „Denn dann werden sie weder heirathen, noch verheirathet werden, sondern sie werden sein, wie die S. 157 Engel Gottes im Himmel.“1 Wer nun das verwirft, der verurtheilt auch das Sehnen nach der Auferstehung. Das kann also nicht verwerflich sein, was den Menschen als Belohnung in Aussicht gestellt ist, und der Widerschein kann doch nicht mißfallen, wenn die Wirklichkeit als Lohn dargeboten wird und als Gegenstand der Sehnsucht in uns lebt.
„Es sei denn!“ — lautet die Gegenrede — „wenn es nicht verwerflich ist, so ist es jedenfalls eine Neuerung.“ Wir verurtheilen sicher mit vollem Rechte alles Neue, was Christus uns nicht gelehrt hat: denn Er allein ist der Weg für die Gläubigen. Hat nun Christus nicht das gelehrt, was wir jetzt lehren, so müßen wir selber dieses verabscheuungswürdig nennen. Aber sehen wir doch nur zu, ob der Herr die Jungfräulichkeit gelehrt, oder ob er geglaubt hat, man dürfe sie schmähen! „Es gibt Verschnittene,“ sagt er, „die sich selbst verschnitten haben um des Himmelreiches willen.“ Das ist aber ein erhabener Dienst, der um das Himmelreich dient. Schon mit diesen Worten hat also Christus gelehrt, daß ungeschwächt andauern müsse das Streben nach Keuschheit.
Die Apostel aber erkannten ihrerseits, daß jenes Streben jedem andern voranstehe. „Wenn die Sache des Mannes mit seinem Weibe sich so verhält, so ist nicht gut heirathen.“ Es erschienen ihnen also einerseits die Lasten des ehelichen Lebens gar schwer, und andererseits erhoben sie den Glanz der Jungfräulichkeit. Da aber der Herr wußte, daß diese zwar allgemein dürfe angepriesen werden, daß aber nur Wenige dem Rufe folgen würden, so erklärte er: „Nicht Alle fassen dieses Wort, sondern nur diejenigen, denen es gegeben ist;“ das heißt: es handelt sich hier nicht um eine Tugend, die von der größeren Mehrzahl erstrebt wird; auch ist ihre Uebung keineswegs mit Rücksicht auf die menschliche Schwäche bloß gestattet, sondern lediglich mit Rücksicht auf hohe Tugend vorgehalten. Gerade deßhalb und um zu zeigen, daß es sich hier nicht um eine S. 158 gewöhnliche Tugend handle, fügt der Herr hinzu: „Wer es fassen kann, der fasse es.“
Deßhalb geschah es auch, daß nach jenen Worten Kindlein zu dem Herrn gebracht wurden, daß er sie segne, welche, noch unkundig der Verderbtheit, den Schmuck der Reinigkeit in ihrem unschuldigen Alter bewahrten. Denn Solcher ist das Himmelreich, die wieder keusch geworden sind, wie die Kinder, unkundig des Lasters. So ist denn die Jungfräulichkeit auch durch das göttliche Wort anerkannt und es entspricht den Geboten des Herrn, diese Tugend zu erstreben.
Hier wollen wir das Beispiel unseres göttlichen Lehrers nachahmen. Nachdem er vorher daran erinnert hat, daß das Eheband nicht dürfe gelöset werden, „es sei denn um des Ehebruchs willen,“ enthüllt er die Schönheit des Gnadengeschenkes der Jungfräulichkeit. So lehrt er, daß die Ehe nicht zu verwerfen, sondern zu billigen ist; aber gleichzeitig, daß der Ehe das Streben nach jungfräulicher Keuschheit vorzuziehen. — Und wer hat sich denn so weit von der Wahrheit verirrt, daß er die Ehe verdamme? Aber wer ist denn auch so sehr allen vernünftigen Denkens baar, daß er die Lasten der Ehe nicht erkännte? „Denn ein unverheirathetes Weib und eine Jungfrau ist auf das bedacht, was des Herrn ist, damit sie an Leib und Geist heilig sei. Die Verheirathete aber ist auf das bedacht, was der Welt ist, wie sie dem Manne gefallen möge.“2
Obgleich nun diejenige, welche sich vermählt, nicht fehlt, es sei denn durch die Uebernahme jener Beschwerden, so wird sie gleichwohl eben um der letzteren willen kaum ohne ein Reuegefühl bleiben. Sind ja doch gar schwer die Nöthen der Geburt, schwer auch die Sorgen für körperliche und geistige Erziehung der Kinder. Den Vermählten ist deßhalb auch vorher der Befehl geworden, daß sie durch solche Beschwerden sich nicht dürfen ihren Pflichten abwendig machen lassen. Manche Frau mag ja in den Wehen sich entschlossen S. 159 haben, der Ehe zu entsagen; andere, welche die Beschwerden des Ehestandes nicht selbst erfahren haben, lassen durch fremde Erfahrung sich abschrecken. Gerade deßhalb sagt der Apostel: „Bist du gebunden, so suche nicht frei zu werden.“ „Bist du gebunden“, sagt er; denn die Gatten sind durch das Band der Liebe gebunden, und die Erweise gegenseitiger Zuneigung umschlingen ihre Herzen immer fester.
Schön mögen also immerhin die Bande der Ehe sein, aber es sind immer Bande, die an das Joch der Welt fesseln, weil die Gattin mehr dem Manne als Gott zu gefallen wünscht und strebt. Süß mögen auch die Wunden sein, die die Liebe schlägt, und vorzuziehen jenen Küssen, von welchen die Schrift sagt:3 „Besser sind die Wunden des Liebenden, als die listigen Küsse des Hasses.“ So verwundete Petrus, während Judas den Kuß darbot; diesen verdammt sein falscher Kuß; jenen bessert die Wunde, die er geschlagen. Dem Kusse des Judas entströmt das Gift des Verrathes, die Schuld Petri wird durch Thränen getilgt. In Uebereinstimmung mit den Worten des Propheten singt deßhalb die Kirche: „Ich bin krank, verwundet vor Liebe.“4
So soll Keiner von denen, welche den Ehestand erwählt haben, die Jungfräulichkeit schmähen: aber ebensowenig sollen die, welche jungfräulicher Keuschheit sich geweiht haben, die Ehe verurtheilen. Längst ja hat die Kirche Jene als falsche Lehrer verdammt, welche das eheliche Band zu lösen wagen. Unsere heilige Kirche bezieht jenes Wort 5 auf sich: „Komme, mein Geliebter, lass’ uns hinausgehen aufs Feld, lass’ uns weilen in den Dörfern! Früh morgens wollen wir in die Weinberge gehen, daß wir sehen, ob der Weinstock blühe, ob die Fruchtblüthen sich aufgethan.“ Der Acker ist der schönste, der Früchte und Blüthen gleichzeitig in reichster Fülle trägt: das aber ist die Kirche in dem Reichthum ihrer Früchte. Hier erblickt man die duftende Blüthe der S. 160 Jungfräulichkeit, den reifen Ernst der Wittwen, die Frucht gesegneter christlicher Ehen: Alles, um die Ernte des Herrn zu einer glorreichen zu machen.
