§ 4. Das Homilienkorpus nach seiner formalen Seite.
Konsequenzen für die Autorschaft des Makarius1.
Beachtenswert ist vor allem der sprachliche Charakter des Homilienwerkes. Zahlreiche Wörter — Stiglmayr2 führt deren sechzig an — passen nicht in den Sprachschatz der Koine, der allgemeinen griechischen Volkssprache der ersten christlichen Jahrhunderte, sondern verweisen als Neologismen, sei es hinsichtlich ihrer Bildung oder Bedeutung, auf eine spätere (byzantinische) Periode. Mehrfach werden griechische Wörter etymologisiert und analysiert, wie ἐκκλησία [ekklēsia] h. 12, 15, πυρετός [pyretos] h. 9, 9, παράκλητος [paraklētos] h. 17, 1 Ἰσραήλ [Israēl] h. 47, 5 u. a.3. Solch subtile Worterklärungen und Zerlegungen gab schwerlich ein Mönch der Wüste, der keine Schulbildung genossen hatte und wohl nur der koptischen Sprache4 mächtig war. Etymologisieren war „eine unausrottbare grammatische Sucht der Byzantiner“5. Auch die in den Homilien gebrauchten volkstümlichen Sprichwörter und sprichwörtlichen Redensarten „scheinen echte Erzeugnisse der byzantinischen Periode zu sein“6. Ebensowenig flossen die vielen griechischen, zur Erläuterung dogmatischer und moralischer Gedanken verwendeten Wortspiele und Redefiguren (Anaphora, Paranomasie, Hypotypose usw.) aus der Feder eines ägyptischen Mönches, der jeder schulmäßigen Ausbildung ermangelte7.
Zu dem gleichen Resultate führt eine Betrachtung der Struktur des Homilienwerkes. Anlage und Aufbau entbehren jeglicher Planmäßigkeit. Die vorwiegend ethisch-asketischen, mit mystischen Zügen durchsetzten Gedankenmassen sind willkürlich und zusammenhanglos aneinandergereiht. „Einzelne herzliche und einfache Ermahnungen wechseln mit dogmatischen oder S. 015 exegetischen Problemen, allegorisierenden Stücken, psychologischen Bemerkungen und scholastisch-spitzfindigen, kleinlichen Aporien“8. Eine zielbewußte und systematische Verarbeitung des reichen und bunten Materials, eine konsequente und organische Gedankenabfolge vermißt man gänzlich. „Die Gedankenentwicklung der einzelnen Themata zeigt bald eine behagliche Breite und fast wörtliche Wiederholungen, bald eine abgerissene, sprunghafte Darstellung mit unvermittelten Übergängen und lässigen Abschweifungen“9. Der Aufeinanderfolge der Homilien liegt kein bestimmter Plan, kein leitendes Gesetz zugrunde. Einige sind zu weitschweifigen, ungebührlich langen Traktaten angewachsen, z. B. h. 15 mit 53 Nummern und 19 Kolonnen in der Migneausgabe, h. 26 mit 26 und h. 27 mit 22 Nummern. Andere dagegen umfassen nur einige Zeilen und behandeln einen einzigen Gedanken, so die Homilien 13, 22 und 39, die bloß den Raum von einer Drittelskolonne bei Migne einnehmen. Flemming10 hat nachgewiesen, daß zwei Homilien aus völlig ungleichen Hälften zusammengesetzt sind, nämlich h. 20 (c. 1—3 gegenüber c. 4—8) und h. 18 (c. 1—6 gegenüber c. 7—11). Nach c. 3 in h. 20 und c. 6 in h. 18 steht die doxologische Schlußformel. Außerdem begegnen uns viele unvermittelte, aus fremden Quellen entlehnte Einschübe, die den Zusammenhang gewaltsam durchbrechen. Ein Muster in dieser Hinsicht ist die fünfzehnte Homilie. Namentlich erweisen sich zahlreiche Bilder und Gleichnisse, an denen die Homilien überreich sind, in ihrer formelhaften, oft völlig unterlassenen stilistischen Verwebung mit dem Organismus der Rede als Interpolationen von späterer Hand. Man denke nur an die wirre Bilderfülle in h. 36, 1—2, 40, 6 und 43. Die Motive hat der Kompilator häufig aus fremden Quellen geschöpft, er hat sie aus den Werken der großen christlichen Altmeister geholt. Aber bei seinem Schilderungstalent liebt er Kleinmalerei. Manche Bilder und Vergleiche, die am Fundorte knapp und maßvoll gehalten sind, führt er mit minutiöser Breite aus. Man vergleiche beispielsweise die detaillierte Naturschilderung in h. 4, 2. „Ein vornehmes Prunkstück“11 ist das Doppelbild in h. 23, 2. Eine andere stilistische Eigentümlichkeit des S. 016 Homilienwerkes sind die zahlreichen, ziel- und zusammenhanglos in den Text eingefügten heterogenen Fragen. Man lese z. B. h. 6. Wiederholt folgt auf eine aufgeworfene Frage eine gänzlich unpassende Antwort. Man vergleiche h. 7, 2; 8, 6; 12, 6; 26, 9; 37, 6. 8 usw. Schon diese wenigen Beispiele rechtfertigen den Schluß Stiglmayrs12, daß der Redaktor des Homilienkorpus entweder eine schon vorher angelegte Sammlung solcher „Fragen“ zur Hand hatte oder sie nebenher, als er die „Homilien“ zusammenschrieb, eiligst anderen Werken seiner eigenen Erinnerung entnahm“.
-
[Nr. 78:] A. a. O. S. 14—46. ↩
-
[Nr. 79:] A. a. O. S. 14—18. ↩
-
[Nr. 80:] Ebd. S.18—21. ↩
-
[Nr. 81:] S. III. ↩
-
[Nr. 82:] Krumbacher, Geschichte der byzantinischen Literatur2 S. 875. ↩
-
[Nr. 83:] Stiglmayr a. a. O. S. 21. ↩
-
[Nr. 84:] Ders., S. 24—31. ↩
-
[Nr. 85:] Ders., S. 31. ↩
-
[Nr. 86:] Stiglmayr, Altchristliche Mystik: Theol. Revue VIII (1909), 233. ↩
-
[Nr. 87:] L. c. p. 7 sqq. ↩
-
[Nr. 88:] Stiglmayr, Sachl. und Sprachl. b. Mak. S. 28. ↩
-
[Nr. 89:] A. a. O. S. 41. ↩
