Eingang.
1. Lob der Mönche von Nisibis. Klage über sich.
S. 321 Selig preis' ich euer Leben, o Freunde Christi, weil es edel und lobenswürdig ist;1 das meinige aber bejammere ich, weil es schlecht und nutzlos ist. Euch preis' ich selig, o Edle, weil ihr durch rechtschaffnen Wandel euch zu Freunden Gottes und der Engel gemacht habt; wer aber kann mich genug beklagen, weil ich Gott durch meine eitlen Werke beleidigt habe? Selig seid ihr; denn eures reinen Wandels und eurer unermeßlichen Liebe wegen seid ihr Erben des Paradieses. Ich bewundere euch wahrhaft, daß ihr nicht die große Mühe gescheut habt,2 zum Nutzen der Seele einen so weiten Weg zu machen; allein noch wunderbarer ist es, daß ihr zu einem Elenden und seiner Sünden wegen Verdammungswürdigen gekommen seid, um von ihm einen heilsamen Unterricht zu verlangen.
2. Demüthige Verwunderung darüber, daß sie an ihn sich wendeten.
S. 322 Ja, es ist wahrlich ein Wunder, wie ihr Gesättigten zu Dem kommet, der vor Hunger verschmachtet; wie ihr, die am geistigen Thaue theilnehmen, zu Dem kommet, der vor Durst ausgetrocknet lechzet; wie ihr, welche der Tugend Süßigkeit haben, zu Dem durch Sünden bitter Gemachten kommet; wie ihr Reichen zu dem Armen, ihr Weisen zu dem Unwissenden, ihr Reinen zu dem Schmutzigen, ihr Gesunden zu dem am Gewissen Kranken, ihr Gottgefälligen zu dem Beleidiger (Gottes), ihr Freien zu dem Gefangenen, ihr Sorgfältigen zu dem Sorglosen kommet. Ihr seid nämlich durch eure Tugenden bewunderungswürdig; allein ich bin thöricht und bettelarm. Ihr besitzt die Enthaltsamkeit und seid gottgefällig; ich aber bin gleichgültig und zu verdammen. Ihr seid durch die guten Werke und eure hellleuchtende Reinheit ein guter Geruch Christi;3 ich aber bin meiner Weichlichkeit und Nachlässigkeit wegen nur übler Geruch. Wahrhaft wunderbar ist es also, daß ihr, die ihr einen so großen Vorzug in euch enthaltet, zu mir gekommen seid, der ich nicht einmal mir selbst nützlich bin.
3. Ihr Beweggrund zu ihm zu kommen. Seine Bereitwilligkeit ihnen zu dienen.
Doch ihr thatet Dieß wahrscheinlicher Weise wohl, o Freunde Christi, weil ihr meine Weichlichkeit stärken und meine träge Seele eifrig machen und meine Nachlässigkeit kräftigen und stark machen wollet; denn euch Vollkommnen gebricht es ja an Nichts. Da ihr aber einmal aus Demuth von mir Armseligen einen ersprießlichen Unterricht verlangt und um mein Leben zu rügen mir diesen Dienst aufgetragen habt, so will ich um der Frucht des Gehorsams willen S. 322 reden; allein ich schäme mich. Sobald ich anfange euch Rathschläge zu ertheilen, verdamme ich mich selbst, und wenn ich Andere zu tadeln beginne, spreche ich mein eigenes Urtheil. Mit Recht kann man folglich auch mir den Ausspruch des Herrn sagen: "Arzt, heile dich selbst!"4 Doch hat ja der Herr und Heiland Aller selbst auch gesagt: "Alles, was sie euch thun heissen, thuet; ihren Werken aber machet es nicht nach!"5 Bin ich also gleich selbst unrein, so weiß ich doch recht zu rathen. Im Hinblicke daher auf diese englische Lebensweise hab' ich jeden Vorzug von ihr selig gepriesen; denn wer sollte nicht einen Menschen, der recht und gottgefällig lebt und in Reinigkeit wandelt, wegen der ihm aufbewahrten, endlosen und unermeßlichen Güter selig preisen? Und wer sollte einen Menschen nicht beklagen, der sorglos dahinlebt und wegen seiner erbärmlichen Aufführung vom Himmelreich' ausgeschlossen ist und seiner Gleichgültigkeit wegen aus jenem Brautgemache verstoßen wird?
