2.
In noch jugendlichem Alter, zu einer Zeit, wo der erste Flaum auf seinen Lippen zu sprossen begann, versah er bereits das Amt eines Lektors an der Kirche von Antiochien1. Solange seine Eltern lebten, wird Theodoret bei diesen geblieben sein, zumal dieselben mit inniger Liebe an dem einzigen Kinde hingen2. Als aber beide Eltern gestorben waren, teilte er das ganze von ihnen ererbte Vermögen unter die Armen und zog sich, 23 Jahre alt, in das Kloster Nicertä bei Apamea zurück, wo er sieben Jahre als Mönch lebte und dem Gebet, der Betrachtung und dem Studium oblag3. Gegen seine Neigung wurde er um 423 zum Bischof von Cyrus gewählt4. S. 011 Cyrus (Κύρρος) [Kyrros] war ein unansehnliches Städtchen in der syrischen Provinz Euphratesia, zwei Tagreisen von Antiochien entfernt, in einer rauhen, bergigen, aber dicht bevölkerten Gegend. Die Diözese Cyrus unterstand zunächst dem Metropoliten von Hierapolis, war ausgedehnt und umfaßte nicht weniger als achthundert Seelsorgebezirke oder Pfarreien. Die Bewohner waren größtenteils arm und ungebildet und vielfach von der Häresie angesteckt. Neben den Arianern waren es besonders die Marcioniten und andere Gnostiker, und zwar in so großer Zahl, daß sie manche Gegenden ausschließlich bewohnten. Hier bot sich dem jungen, arbeitsfreudigen und seeleneifrigen Bischof ein reiches und schwieriges Feld der Tätigkeit. Aber der Eifer, die Geduld, die Unerschrockenheit und Standhaftigkeit des heiligmäßigen Bischofs siegten über jede Schwierigkeit, und zwar mit solchem Erfolg, daß bei seinem Tode die Diözese von den Irrlehrern so ziemlich gereinigt war. Er führte mehr als zehntausend Marcioniten zur Kirche zurück, nahm nicht weniger als zweihundert Exemplare von Tatians Diatessaron hinweg und ersetzte sie durch die kanonischen Evangelien. Seine apostolische Tätigkeit brachte ihn öfter in Lebensgefahr; von den Heiden mußte er mehr als einmal Mißhandlungen erdulden, aber er ließ sich in seinem Feuereifer nicht wankend machen.
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Hist. relig. XII, Migne 82, 1397 A. ↩
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Vgl. Hist. rel. IX, Migne 82, 1380 D, 1381 A. ↩
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Ep. 113, Migne 83, 1317. Theodoret erwähnt das Kloster wiederholt in seinen Briefen; so im Synod. Cassin. c. 66 Schluß („monasterii mei”), bei Migne 84. 675, in den epp. 80 u. 81, bei Migne 83, 1257 D u. 1261 B, und in der ep. 119 gegen Schluß („τὸ ἡμέτερον μοναστήριον”) [„to hēmeteron monastērion”] und bemerkt dazu in dem letztgenannten Briefe, daß es 120 Meilen von dem Gebiet von Cyrus (Cyrrestica), 75 Meilen von Antiochien und 3 Meilen von der Stadt Apamea entfernt sei. Migne 83, 1329. In der Biographie des Mönches Marcian berichtet er, daß ein Schüler desselben, Agapet, die aszetische Lebensweise nach Apamea verpflanzt und dort in dem großen und reichbevölkerten Dorfe Nicertä zwei große Klöster (δύο φιλοσοφίας φροντιστήρια μέγιστα) [dyo philosophias phrontistēria megista] errichtet habe. Hist. rel. III, Migne 82, 1325 CD. In eines von diesen Klöstern wird Theodoret eingetreten sein. ↩
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Ep. 81, Migne 83, 1261. ↩
