4.
Da drängt sich denn die Frage auf: welcher der so verschiedenartigen Textzeugen bietet uns den wahren Aristides, G oder S (mit A), oder keiner von beiden? Es ist leicht begreiflich, daß in seiner Entdeckerfreude Robinson für die Ursprünglichkeit von G, wie Harris für die von S eintrat. Aber auch abgesehen von diesem psychologischen Moment läßt sich schwer in Abrede stellen, daß wer unbefangen und ohne Seitenblick auf S den Griechen liest, darin wenig oder nichts vermissen wird 1, mag er auch immer nach der formellen Seite hin von einem athenischen Philosophen, auch des zweiten Jahrhunderts n. Chr., etwas mehr erwarten. Ja bei flüchtigem Vergleich scheint eben die Knappheit von G für dessen Originalität zu sprechen, zumal wenn man dazu erwägt, daß die (späteren) syrischen Übersetzer 2 sich einer gewissen Umständlichkeit befleißen. Nicht umsonst haben - um nur deutsche Forscher zu nennen - A. Harnack 3 und R. Raabe 4 in G, wenn nicht das Original, so doch die vorzüglichere Rezension erblickt. S. 11
Dagegen ist zuerst A. Ehrhard 5 für S „als den zuverlässigsten Führer unter den drei Texten“ eingetreten. Er machte vor allem geltend, daß S als Übersetzer kein anderes Interesse hatte, als seine Vorlage möglichst getreu wiederzugeben, während der stilgewandte 6 Mönch von Mar Saba die Apologie für seinen Roman zurichtete. Daraus ließen sich im großen und ganzen die Kürzungen, besonders in den drei letzten Kapiteln, und die mannigfachen Umstellungen erklären. Namentlich sei aber G wegen seiner schrofferen Stellungnahme zum Judentum (K. XIV) und noch mehr ob seiner christologischen Terminologie (K. XV; vgl. S II 6-8) in eine spätere Zeit zu verweisen. Dies gilt auch von dem sonst S nahestehenden Armenier. Der Kampfpreis in Verteidigung des Syrers gebührt aber R. Seeberg , der nach sorgfältigster Prüfung aller Einzelheiten zu dem Ergebnis gelangt, daß S „nicht bloß die Grundlage zur Neukonstruktion des Textes der Apologie“ bildet, „sondern eine treue, wörtliche Übersetzung des Werkes des Aristides“ ist 7, „wiewohl es an kleinen Versehen, Flüchtigkeitsfehlern, Verdeutlichungen, ja selbst an leisen dogmatischen Ergänzungen und Modifikationen nicht ganz fehlt“ 8. Demgegenüber hat der Grieche, von ästhetischen und dogmatischen Gesichtspunkten geleitet, die Apologie bald mehr, bald weniger frei überarbeitet, während seiner Arbeit immer mehr gekürzt und manches umgestellt. Trotz alledem ist G für uns von hohem Werte; er hat uns sicher zahlreiche Stücke der Apologie im ursprünglichen Wortlaut aufbewahrt und gestattet uns einen Einblick in die Ausdrucksweise und den Sprachschatz des Aristides einerseits, wie in die Übersetzungsweise des Syrers anderseits 9. Auf solchen Erkenntnissen hat denn Seeberg mittels einer S. 12 freilich oft gar zu wörtlichen Verdeutschung des Syrers und unter kluger Ausnützung alles in G (und A) Brauchbaren, seinen Aristides aufgebaut 10. Im allgemeinen fällt über G und S ein ähnliches Urteil E. Henneck 11, mag er auch dem Griechen größeres Vertrauen entgegenbringen und zu etwas mehr Vorsicht im Gebrauch des Syrers mahnen. Derselbe 12 hat denn auch G neu herausgegeben und mit Hilfe von Raabes Übersetzung die Aristides-Apologie gar vorsichtig und von Seeberg ziemlich abweichend rekonstruiert, wobei er unterm Strich den (jeweils bevorzugten) Syrer griechisch wiedergab, ein Versuch, den Seeberg nur an ganz wenigen Stellen gewagt hatte. Im Unterschied von diesen dem Syrer mehr oder minder geneigten Forschern sprach sich über dessen textkritischen Wert sehr skeptisch E. Nestle aus, der S zu jenen syrischen Versionen rechnet, „die eigentlich mehr freie Bearbeitungen sind“ 13. Endlich folgt J. Geffcken 14 bei seiner Wiederherstellung der Apologie noch entschiedener als Hennecke dem Griechen, nicht nur in Einzelheiten, sondern auch in der Anordnung des Stoffes. „Eine strikte Parteinahme für S oder G“ müsse man sich allerdings versagen; beide Rezensionen seien eben eine Bearbeitung des Aristides 15. Mit Grund nimmt nämlich Geffcken für S eine andere griechisch 16 Textvorlage an. S. 13
Auch darin mag er recht behalten, daß G größere Berücksichtigung verdient, als ihm insbesondere Seeberg widerfahren läßt; aber die so ziemlich allgemeine Überzeugung von der größeren Treue und Zuverlässigkeit des Syrers wird kaum mehr zu erschüttern sein 17. Man wird es darum nur billigen, wenn auch wir unserer Verdeutschung S zugrunde legen, dabei aber G und A mit Vorsicht ausnutzen. Was speziell noch den Armenier anlangt, so dürfte sich seine anfängliche Minderwertung allgemein behauptet haben, muß man auch für gewisse Wendungen desselben dankbar sein.
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Mit Recht schreibt Robinson (l. c., p. 71): the Greek form is still felt to be a harmonious and consistent whole. ↩
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Unsere Übersetzung mag dem 5. Jahrh. angehören. ↩
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Theol. Litztg. XVI (1891), 30l ff. 325 ff. ↩
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Die Apologie des Aristides aus dem Syrischen übersetzt und mit Beiträgen zur Textvergleichung und Anmerkungen herausg. = Texte u. Untersuch. IX 1 (1893)), S. 28 ff. ↩
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Lit. Handweiser 1892, S. 9-16, 49-54, und wiederum Die altchristl. Literatur und ihre Erforschung von 1884-1900, I (Freiburg i. Br. 1900), S. 205 f. ↩
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Krumbacher, a. a. 0., S. 888. ↩
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Die Apologie des Aristides untersucht und wieder hergestellt (= Th. Zahns Forschungen V 2), Erl. u. Lpz. 1893, S. 203. ↩
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Ebd. 202 ↩
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Vgl. ebd. 192 f. ↩
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R. Seeberg a. a. O. 317. 408. ↩
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Zur Frage nach der ursprünglichen Textgestalt der Aristides-Apologie: Zeitschr. f. wissenschaftl. Theologie XXXVI 2 (1893), S. 41-116, speziell 57-60. Vgl. Theol. Litztg. XIX (1894), 442. XXXIII (1908), 196 ff. ↩
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Die Apologie des Aristides. Recension und Reconstruction des Textes = Texte u. Untersuch. IV 3 (1893). S. 44 ff. gibt er eine dankenswerte Zusammenstellung aller alten Nachrichten über Aristides. ↩
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Zeitschr. f. .wissensch. Theol. XXXVllI (1895), S. 291 f. ↩
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Zwei griechische Apologeten. Lpz. u. Berl. 1907. Leider hat sich der des Syrischen unkundige Altphilolog einseitig an die sklavische, aber gegen Mißverständnisse durchaus nicht gefeite, Übertragung Seebergs gehalten ↩
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S. XXXV ff. ↩
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Das beweisen insbesondere die mythologischen Kenntnisse, die S in den K. IX ff. verrät, wie sie einem Syrer des 5. Jahrh. nicht mehr zuzutrauen sind; vgl. schon Hennecke; Die Apologie des Aristides, S. XVIII A. Wie wenig der syrische Übersetzer in der griechischen Mythologie bewandert war, zeigt er XI 3, wo er Persephone zu des Hades Tochter macht. ↩
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Vgl. O. Bardenhewer, Patrologie 3 (Freiburg i. Br. 1910) S. 36. ↩
