II.
Etwas Gewaltiges, Überschwengliches wahrhaftig, daß die Blume der Jungfräulichkeit vom Himmel herab Menschen verliehen ward! Und darum blieb sie den ersten Geschlechtern unenthüllt. Noch war ja die Menscheit in kärglicher Zahl, noch ging ihre Vollendung darauf: zuerst zur Menge sich zu vermehren. So nahmen denn die Alten sogar ihre eigenen Schwestern zu Weibern und das war dennoch nichts Schändliches — S. 287 bis das Gesetz kam und Weisung gab und, was zuerst gut geschienen, verbot und zur Sünde stempelte und hieß den „verflucht, der seiner Schwester Blöße enthüllet“1; so hat Gott wohlbedacht zur rechten Zeit die unserm Geschlechte gemäße Hilfe gegeben, wie denn auch die Väter also tun an ihren Söhnen. Denn die stellen nicht gleich von vornherein die Pädagogen hin, vielmehr lassen sie das kindliche Alter seine Streiche machen den Öchslein ähnlich; zuerst müssen sie so zu Lehrern gehen, die mit den Stammlern stammeln; haben sie dann die Erstlingshaare des Geistes abgetan, so heißt man sie sich an die Bewältigung schwererer Aufgaben machen und darnach wieder an die noch schwererer. Der gleiche Weg war es — so muß man denken — den der Gott und Vater des Alls einhielt mit unsern Altvordern. Solange nämlich die Welt an Menschen noch geringe Zahl aufwies, da stand sie gleichsam im Kindesalter und mußte daraus erst zum Manne erwachsen und zur Menge sich vermehren. Aber wie sie des weitern von einem Ende zum andern besiedelt war und die Menschheit wie ein Meer ins Unermeßliche sich dehnte, da ließ Gott die Menschen nicht mehr im alten Zustande, da gedachte er des Fortschrittes, wie sie von Stufe zu Stufe schreiten und dem Himmel näher kommen möchten, bis zu ihrer Vollendung in der höchsten und erhabensten Schule selbst: in der Jungfräulichkeit; so mußten sie von der Geschwisterehe ausgehen und zu der mit fremden Gattinnen sich erheben, dann wieder weiter zum Verzicht auf Vielweiberei, der Ordnung der Tiere, (als wäre man auf Erden nur zur Begattung!) und wieder weiter zum Verzicht auf Ehebruch und nochmal weiter zur weisen Mäßigung: von der weisen Mäßigung aber fort zur Jungfrauschaft, wo sie lernen, das Fleisch zu verachten, wo sie der Ängste ledig landen am heitern Orte der Unvergänglichkeit.
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Lv. 18,9; 20,17. ↩
