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Als der große Moses das Volk Israel an den Berg führte, damit es dort in die heiligen Lehren eingeweiht werde, hielt er es der Erscheinung Gottes nicht eher für S. 103 würdig, bevor er nicht für das Volk eine Reinigung durch Enthaltsamkeit und Waschung angeordnet hatte. Aber auch so waren die Israeliten nicht ohne Furcht vor dem Erscheinen der göttlichen Majestät, sondern bei jedem Zeichen derselben erschraken sie: beim Feuer, bei der Finsternis, beim Rauche und bei den Posaunen. Und als sie sich von diesen Schrecknissen wieder etwas erholt hatten, baten sie Moses, für sie der Vermittler des göttlichen Willens zu werden, da sie fühlten, daß ihre Kraft nicht ausreiche, Gott zu nahen und seine Erscheinung zu empfangen. Unser Gesetzgeber, unser Herr Jesus Christus, der uns der göttlichen Gnade zuführen will, zeigt uns in seiner Verkündigung keinen Berg Sinai, in Finsternis gehüllt und von Feuer rauchend, keine Posaunenstöße, die geheimnisvoll und schrecklich widerhallen. Auch reinigt er die Seelen nicht etwa durch dreitägige Enthaltsamkeit und mit Wasser, das den Schmutz wegwäscht; ebensowenig läßt er die ganze Gemeinde am Fuße des Berges zurück, um nur einem Einzigen den Aufstieg zum Gipfel des Berges zu gestatten, den der Rauch einhüllt, um die Herrlichkeit Gottes zu verbergen. Nein! statt nur auf den Berg führt er zum Himmel empor, indem er ihn für alle, welche der Tugend nachstreben, zugänglich macht. Auch macht er die Menschen nicht bloß zu Zuschauern der göttlichen Herrlichkeit, sondern sogar zu Teilhabern an derselben und führt jene, welche sich ihr nahen, gewissermaßen zur Verwandtschaft mit der göttlichen Wesenheit. Desgleichen verbirgt er nicht die alles überragende Majestät in Dunkel, so daß sie für die, welche sie suchen, schwer zu schauen wäre, sondern mit dem weithin strahlenden Licht seiner Lehre hat er das Dunkel erhellt und in leuchtender Klarheit allen, die reinen Herzens sind, die unaussprechliche Herrlichkeit sichtbar gemacht. Und Wasser zum Besprengen gewährt er nicht aus Bächen, die nicht unser sind, sondern solches, das in uns selbst emporquillt, mag man darunter den Quell der Augen oder das reine Gewissen des Herzens verstehen1. Ferner nicht dadurch, S. 104 daß er den erlaubten ehelichen Verkehr untersagt, will uns der Herr heiligen, sondern dadurch, daß er jede auf das Sinnliche und Irdische gerichtete leidenschaftliche Seelenverfassung verbietet. Solche Reinigung verlangend, führt er uns durch das Gebet zu Gott. Das ist die Absicht seiner Gebetsunterweisung, durch die wir befähigt werden sollen, nicht zur Hervorbringung bestimmter Töne durch das Aussprechen vorgeschriebener Worte, sondern zu höherem Streben und damit zum Aufstieg der Seele zu Gott.
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Nach einer Lesart: das keinen Schlamm der Sünde mit sich führt. (Öhler S. 224.) ↩
