VORWORT des Nikolaus Alfanus, Erzbischofs von Salerno (1058 — 1085)
S. 1 zu seiner lateinischen Uebersetzung der Schrift des Nemesios, Bischofs von Emesa.
Bekanntlich überragt der Mensch alle ihm untergebenen Wesen durch seine angeborene Vernunft; folglich muß er mit ihr, wenn sie sich entfaltet hat, über die Wesen herrschen oder ihnen selbst gleich werden, wenn sie niedergedrückt ist. Daher muß jeder einzelne sich bis ins innerste Mark anstrengen, seinen Geist zum Studium der Wissenschaften hinzulenken; man soll nicht behaupten dürfen, er tue eher Dienste gleichwie die vernunftlosen Tiere, statt daß er herrsche wie die vernunftbegabten Wesen. Jedenfalls mußt du, mein Herr, dich hierin vor den andern desto sorgfältiger bemühen, je mehr du dich dazu bestimmt fühlst, anderen Wesen, sogar auch Menschen, zu gebieten. Denn die Vernunft hat die Kraft, den vernünftigen Menschen auf die Vorgänge des Innenlebens aufmerksam zu machen und ihn zur Ordnung und Verwaltung der Außenwelt auszustatten. So wird er, wenn Gesetze bestehen und wenn ihm die rechte Handlungsweise bekannt ist, sich nicht mit seiner Herrschaft über das Maß erheben; er wird auch nicht die Diener über die Grenze hinaus zur Arbeit zwingen; vielmehr wird er kenntnisreich die Natur der höheren Wesen, seines eigenen Ichs und auch der Untergebenen prüfen; indem er sich das bewahrt, was ihm billigerweise zukommt, wird er den höheren Wesen, das heißt: den göttlichen, die gebührende Ehrfurcht erweisen und den Untergebenen gerechtes Entgegenkommen zeigen. Denn jeder beraubt sich selbst mit Recht der Herrschaft, der nicht sich und auch die nicht kennt, denen er gebietet. Deshalb fragte die Weisheit, als sie sich entschlossen hatte, einen ihrer nächsten Freunde zu besuchen, der infolge verschiedener Unglücksfälle schwer am Verstande litt, zu Beginn der Unterhaltung folgendermaßen den Kranken: „NOEIS SEAUTON?" Das heißt: „Erkennst du dich selbst?" Er sollte wissen, das, was er verlor, sei ganz leicht wiederzubekommen, wenn das Vorstellungsvermögen wie eine feststehende Grundlage frisch und kräftig sei, andrerseits sollte er im Falle der Erlahmung der Vorstellungskraft die gewaltige Schwierigkeit des Wiedergewinns derselben Dinge wahrnehmen. Der Vernünftige S. 2 muß deswegen über seine Vernunft wachen vorzüglich zu dem Zweck, damit nicht nach ihrer Erstickung in ihm auch noch die Teile des Wissens verwelken müssen, die über ihr errichtet und noch zu errichten sind. Man muß die Vernunft, weil sie gleich von ihrem ersten Auftreten an durch die Stoffmasse des Körpers größerenteils abgerieben wird, durch Wissenschaften, Tugenden und verschiedene Beschäftigungen vom körperlichen Roste sauber feilen, soweit wie ein vernünftiger Mensch seine eigene Natur und die seiner Umgebung mit den glänzenden Strahlen der Vernunft bis in die Tiefe zu ergründen und zu lenken vermag. Darum fühle ich mich genötigt, eingangs ein wenig Gelehrsamkeit auszubreiten. Solange sie der Ofen der Philosophie ausspeit, kann er jedermanns verrostete Vernunft, die er mit seinem Feuer berührte, zum größeren Teil auskochen und vom Roste säubern, damit dieser Mensch bei der Beobachtung des Wesens der Naturgeschöpfe verdientermaßen den Namen eines Führers tragen und sein Amt versehen kann.
Allein es ist unmöglich, bis auf die unzertrennlichen Teile aller Wesen Stück für Stück spürend vorzudringen und ihre Beschaffenheit kurz darzulegen; außerdem würde sich bei ausführlicher Beschreibung sogar Widerwillen, hauptsächlich bei den Männern in den höchsten Würdenämtern, einstellen. So will ich, Nikolaus Alfanus, denn auch deinem glücklichen Beispiel folgen; ich will die ziemlich umfangreichen Aeußerungen zu diesem Wissenschaftszweig von sehr vielen Schriftstellern und besonders von solchen, die die Mutter Griechenland großzog, weil der Mangel an lateinischen Gewährsmännern dazu zwang, übersetzen und in diesem kleinen Werk zusammentragen; ich will ferner von dem Fünkchen der eigenen Erfahrung und des eigenen Verstandes an ganz verborgener Stelle gleichsam einen wert- und gewichtlosen Strohhalm, der sich an fransigem Kleidsaum anheftet, ohne daß er paßt, anfügen. Dadurch, daß ich in mäßigem Umfang die allgemeinen Grundbegriffe und gewissermaßen die Stämme der Naturdinge wenigstens mit kunstvoller Geschicklichkeit darbiete, werde ich meine Schritte von tiefen Wegen hinab zu einer ins Kleinliche ausartenden Auseinanderlegung der untergeordneten Teilbegriffe und der zahllosen kleinen Zweige zurückhalten. Das geschieht nicht ohne Erfolg. Denn wenn auch das Wesen der besonderen Einzeldinge erkannt ist, so läßt es sich leicht von jedem Menschen vollkommen und sogar durchsichtig bis auf den Grund von den Männern erfassen, die mit durchdringendem Blick aus ganz Wenigem eine Unmenge herauszufinden sich bemühen. Bei schwierigen Fragen endlich werden Lehrmeinungen des Pythagoras, Platon s, des Aristoteles, des Hippokrates, Galens und andrer sehr zahlreicher Philosophen, die ebenso bedeutend wie diese genannten sind, zur handlichen Verwendung vorgelegt werden. Diejenigen Lehren, die in ihrer ganzen Ausdehnung von der Wahrheit Licht S. 3 beseelt worden sind, werden der folgenden Darstellung der Wissenschaft unter die Säulenreihe und unter die Schutzdächer eingereiht werden; dagegen werden die Lehren, die nur bis auf die Oberfläche (ihrer äußeren Form) mit der Schminke der Wahrscheinlichkeit weißgefärbt sind, mit glaubhaften und deutlich beweisenden Gründen durchtränkt werden. Fragen, die unter der Wolke der Untersuchung im Dunklen lagern, werden durch den Glanz göttlicher Wissenschaft erhellt werden; gerade sie überstrahlt in dem schimmernden Lichte der Wahrheit so sehr die Lehren der Philosophen, wie sie ja nicht bloß vom menschlichen Atem, sondern auch vom göttlichen Geiste angehaucht ist.
Was also abzulehnen und aufzunehmen ist, wird unter ganz bestimmtem Gesichtspunkt Auswahl und Widerlegung finden; ferner muß dieser Ablehnung und Aufnahme mit glaubhaften und deutlich beweisenden Gründen Genüge geschehen; daher werden die für dies Büchlein zum Aufbau nötigen Zeugnisse der freien Künste gleichsam als geeignete Geräte zusammengetragen werden; dieses kleine Buch wird später sogar für die Künste selber von nicht geringem Nutzen sein, nicht nur für sie, sondern auch für die Heilkunst und die Gottesgelahrtheit. Um es kürzer zu sagen: mag man auch das Büchlein mit der Mehrheit seines Inhalts der Naturwissenschaft zuzuweisen haben, so ist es gleichwohl von sämtlichen Eutern der Philosophie getränkt; demnach wird es auch seiner eigenen Mutter einen nicht ganz unnützen Nahrungsstoff darbieten. Seine Aufschrift wird lauten: „Grundlage der Naturdinge"; das heißt: Stamm der Naturgeschöpfe; denn wie von einem einzigen Stamme viele Zweiglein ausschlagen, so werden aus dem Quell dieser Wissenschaft die meisten Bächlein der Naturwissenschaft reichlich überströmen.
Nun gehören freilich die Naturdinge zum Weltall und zu seinen Teilen. Aber die vorliegende Arbeit hat nicht die Aufgabe, diese Dinge in klarer Knappheit einzuflechten; das wäre Gegenstand einer umfangreichen Abhandlung. So wird denn dieses kleine Werk mit vollem Recht beim Menschen anfangen, sozusagen beim bekannteren Teil. Denn er trägt nach der Ansicht der Philosophen das Abbild des Weltalls; so hat man ihn auch noch aus diesem Grund eine „Kleinwelt" genannt.
Nun also bitte ich dich: sei so gnädig, wenn etwas fehlen soll, es mit Milde zu ergänzen, Ueberflüssiges mit gerechtem Urteil zu entfernen, Irrtümer mit Weisheit zu berichtigen, das etwa passend Gesagte freudig aufzunehmen und das Angenommene mit Wohlwollen gutzuheißen. Denn als günstiger Beurteiler wirst du ebenso großes Verdienst erwerben wie der Verfasser. So wirst du gewiß die gierig geöffneten Münder der Nebenbuhler mit einem Pechklümpen sättigen und gegen ihre giftigen Bisse deinen vorsichtigen Schützling verteidigen.
