4.
V. 4: „Welcher sich hingegeben hat für unsere Sünden.“
Siehst du, daß sein Dienst kein sklavischer und erzwungener war, und daß er auch nicht von einem anderen überliefert wurde, sondern sich selbst dahingab? Wenn du demnach des Johannes Worte vernimmst: „Seinen eingeborenen Sohn hat der Vater für uns hingegeben“,1 so hüte dich, deshalb die Würde des Eingeborenen herabzusetzen oder an menschliche Unterwürfigkeit zu denken! Denn wenn auch gesagt wird, der Vater habe dahingegeben, so wird es nicht deshalb gesagt, damit du von Sklavendienst träumest, sondern damit du einsehest, wie auch der Vater daran sein Wohlgefallen gehabt hat. Was Paulus übrigens auch an unserer Stelle ausspricht, indem er beifügt: „nach dem Willen Gottes und unseres Vaters“. Nicht: nach dem Auftrage, sondern: nach dem Willen. Denn da ein Wille dem Vater und dem Sohne eignet, so hat das, was der Sohn erstrebte, auch der Vater gewollt. — „Für unsere Sünden.“ Mit tausendfacher Schlechtigkeit, meint er, hatten wir uns angesteckt und mußten der strengsten Züchtigung gewärtig sein. Das Gesetz nun brachte nicht bloß keine Erlösung, sondern überdies noch Verdammnis, weil es einerseits die Sünden offenbar machte, anderseits nicht (davon) zu befreien S. 26 noch den Zorn Gottes zu besänftigen vermochte. Der Sohn Gottes hingegen hat dieses Unmögliche möglich gemacht; er hat die Sünden getilgt, die Feinde in die Zahl der Freunde versetzt und tausend andere Gnaden geschenkt. — Dann fährt der Apostel fort: „damit er uns errette aus der gegenwärtigen bösen Zeit“. Wiederum klammern sich andere Ketzer2 an diese Stelle, schmähen das gegenwärtige Leben und berufen sich dabei auf Pauli Zeugnis. Seht da, so sagen sie, er hat die gegenwärtige Zeit eine böse genannt. Nun, was ist denn eigentlich „Zeit“? Antworte mir! — Ei, der Zeitraum, der aus Tagen und Stunden besteht. — Wie? So wäre also der Abstand der Tage böse und der Sonne Lauf? Das dürfte wohl keiner je behaupten, und wenn er an Verstand auch ganz herabgekommen wäre. — Aber er hat nicht vom Zeitraum gesprochen, erwidert man, sondern das gegenwärtige Leben böse genannt. — Fürwahr, der Wortlaut besagt das nicht. Aber du hältst dich ja nicht an den Wortlaut, aus dem du doch die Anklage hast drechseln wollen, sondern bahnst dir selbst einen Erklärungsweg. Nun, dann wirst du auch uns erlauben, die Stelle zu erklären, und dies um so mehr, als unsere Erklärung dem religiösen Gefühl und der Vernunft Rechnung trägt. Was also ist unsere Ansicht? Daß nichts Böses jemals Ursache von etwas Gutem werden kann, das gegenwärtige Leben aber Ursache unzähliger Siegeskronen und unermeßlichen Lohnes ist. Jedenfalls lobt gerade er, der hl. Paulus, es über die Maßen, indem er ausruft: „Wenn aber das Leben im Fleische, wenn dieses mir Frucht des Wirkens bringt, so weiß ich nicht, was ich vorziehen soll.“3 Und indem er sich selber vor die Wahl stellt, hier zu leben oder aufgelöst zu werden und mit Christus zu sein, zieht S. 27 er den Aufenthalt in dieser Welt vor. Wenn das gegenwärtige Leben wirklich böse wäre, so hätte jener gewiß nicht Solches von sich selbst gesagt, noch hätte irgendein anderer trotz allen Eifers es für die Tugend nützen können. Denn das Schlechte kann man nie für das Gute nützen: die Unzucht nie für die Keuschheit, die Scheelsucht nie für das Wohlwollen. — Auch wenn Paulus von der fleischlichen Klugheit sagt, daß „sie sich dem Gesetze Gottes nicht fügt, denn sie vermag es nicht“,4 so meint er damit: das Laster, solange es Laster bleibt, kann nicht Tugend sein. — Wenn du daher von böser Zeit hörst, dann verstehe darunter die bösen Handlungen, die verderbte Willensrichtung. Denn nicht um uns zu töten und fortzunehmen aus diesem Leben, ist Christus gekommen, sondern um durch Belassen in der Welt uns des Aufenthaltes in den himmlischen Räumen würdig zu machen. Darum flehte er auch im Gebete zu seinem Vater: „Diese sind in der Welt, und ich komme zu dir… Ich bitte nicht, daß du sie hinwegnehmest von der Welt, sondern daß du sie bewahrest vor dem Bösen“,5 d. i. vor dem Laster. — Befriedigt dich aber diese Erklärung nicht, und verbleibst du bei deiner Behauptung, das gegenwärtige Leben sei böse, dann schilt mir nicht die Selbstmörder! Denn gleich wie der, welcher sich dem Laster entzieht, nicht Schelte, sondern vielmehr Kränze verdient, ebensowenig darf der, welcher durch gewaltsamen Tod, sei es den Strang oder auf andere Weise, seinem Leben ein Ende macht, nach eurer Auffassung billig gescholten werden. Nun aber straft Gott solche Menschen strenger als die Meuchelmörder, und wir alle hegen (vor ihnen) den tiefsten Abscheu; und das mit Fug und Recht. Denn wenn es nicht erlaubt ist, andere zu töten, dann noch viel weniger sich selbst. — Noch eines: Wäre das gegenwärtige Leben ein Übel, so müßte man die Mörder belohnen, weil sie uns von dem Übel befreien. — Außerdem geraten jene Ketzer auch mit ihren S. 28 eigenen Behauptungen in Widerspruch. Indem sie faseln, die Sonne sei Gott und nach ihr der Mond, und dieselben als Spender vieler Güter anbeten, widersprechen sie sich selbst. Denn diese und alle übrigen Gestirne bieten weiter keinen Nutzen, als daß sie beitragen zum gegenwärtigen, nach ihrer Behauptung so bösen Leben: sie vermitteln dem Leibe Wachstum und Licht und bringen die Früchte zur Reife. Warum also leisten zur Erhaltung des Lebens diese eure vermeintlichen Götter so große Dienste? Aber weder sind die Gestirne göttliche Wesen — das sei ferne! —, sondern Geschöpfe Gottes, ins Dasein gerufen zu unserem Nutzen, noch ist die Welt böse. — Du weist hin auf die Mörder, die Ehebrecher, die Grabschänder? Das hat mit dem gegenwärtigen Leben nichts zu tun. Diese Frevel fallen nicht dem Leben im Fleische, sondern dem verderbten Willen zur Last. Denn wenn sie dem gegenwärtigen Leben notwendig anhafteten, ihm gleichsam als unausweichliches Los zugefallen wären, dann wäre niemand frei und niemand rein. Bedenke doch, daß kein Mensch sich den Besonderheiten des Lebens im Fleische zu entziehen vermag! Welche sind diese? Speise, Trank, Schlaf, Wachstum, Hunger, Durst, Geburt, Tod und Ähnliches. Niemand kann darüber hinaus: nicht der Sünder, nicht der Gerechte, nicht der König, nicht der Bettler, sondern alle unterliegen wir dem Zwange der Natur. So könnte auch dem Verbrechen, wenn es zur Natur des Lebens gehörte, niemand entgehen, ebensowenig wie diesen Dingen. — Wende mir nicht ein, daß es nur wenige rechtschaffene Männer gebe! Du wirst keinen Menschen finden, der sich je über die Schranken der Natur erhoben hätte. Solange deshalb auch nur ein einziger sich finden läßt, der die Tugend hochhält, wird unser Argument in nichts entkräftet werden. — Wie, du elender Wicht, bös soll dieses gegenwärtige Leben sein, in dem wir Gott kennengelernt haben, in dem wir tiefen Einblick in die Natur gewinnen, in dem wir aus Menschen Engel gewor- S. 29 den sind und teilnehmen an den Chören der himmlischen Kräfte? Brauchen wir da noch einen anderen Beweis, daß eure Ansicht böse und verkehrt ist?
