II.
Ihr wißt aber, daß die Beleidigungen nach der Person des Beleidigten qualifiziert werden. Z. B. wer einen S. 508 Privatmann beleidigt, der hat sich verfehlt, aber nicht in reichem Grade wie der, welcher eine amtliche Person beleidigt; und wieder in höherem Grade fehlt, wer einen höher stehenden als wer einen niederen Beamten beleidigt. Wer aber den König beleidigt, hat sich noch weit mehr verfehlt. Die Beleidigung ist an und für sich dieselbe, aber sie wächst mit der Bedeutung der beleidigten Persönlichkeit. Wenn aber gegen den Majestätsverbrecher wegen der Würde der beleidigten Person eine äusserst hohe Strafe ausgesprochen wird, wie viel Talente wird erst der zahlen müssen, der gegen Gott gefrevelt hat? Also wenn wir denselben Frevel begehen gegen Gott wie gegen die Menschen, so ist das durchaus nicht der gleiche Fall, sondern so groß der Unterschied ist zwischen Gott und den Menschen, so groß ist auch der Unterschied zwischen dem einen und andern Frevel. Nun gibt es aber Sünden, welche nicht nur groß sind in Anbetracht der hochstehenden Persönlichkeit des Beleidigten, sondern schon in Anbetracht ihrer Natur. Und es ist ein schauerliches, wahrhaft furchtbares Wort, das ich jetzt aussprechen will; aber es muß gesagt sein, damit ich vielleicht auf solche Art eueren Sinn erschüttere und rühre: Es ist gewiß, daß wir die Menschen viel mehr fürchten als Gott, daß wir die Menschen viel mehr ehren als Gott. Schau dich nur um! Der Ehebrecher z. B. weiß, daß Gott ihn sieht, aber er achtet nicht auf ihn; sieht ihn ein Mensch, dann beherrscht er seine sinnliche Begierde. Ein solcher Mensch achtet nicht bloß die Menschen höher als Gott, er frevelt nicht bloß gegen Gott, sondern was noch weit schlimmer ist, er fürchtet die Menschen und achtet gar nicht auf Gott. Sieht er nämlich Menschen, dann weiß er die Flamme seiner Begierde zu unterdrücken, oder vielmehr, was rede ich von einer Flamme? Ein Frevel ist es, keine Flamme. Wäre es ihm überhaupt nicht möglich, mit einem Weibe zu verkehren, dann könnte man von einer „Flamme“ sprechen; so aber ist es bloß Frevel und Uebermuth. Also wenn er Menschen sieht, dann steht seine rasende Gier stille, die Langmuth Gottes aber kümmert ihn weniger. Ein Anderer S. 509 wieder, der Dieb, ist sich dessen bewußt, daß er fremdes Eigenthum verletzt, und die Menschen sucht er zu hintergehen, vertheidigt sich auch gegen die Beschuldigung des Diebstahls und gibt seiner Vertheidigung den Schein der Wahrheit; daß er aber Gott nicht täuschen kann, das kümmert ihn nicht, da kennt er keine Scham, das taxiert er nicht hoch. Und wenn der König den Befehl gibt, daß wir vom fremden Gute die Hand lassen, ja daß wir unser Vermögen opfern sollen, dann sind wir gerne dazu bereit; befiehlt aber Gott, keinen Raub zu begehen und nicht fremden Besitz aufzuspeichern, dann kehren wir uns nicht daran. Siehst du, daß wir den Menschen eine höhere Ehre zuerkennen als Gott? Das Wort kränkt und schmerzt euch. Beweiset, daß es euch kränkt! Meidet die böse That. Wenn ihr vor der That nicht zurückschreckt, wie kann ich euch glauben, wenn ihr sagt, dieses Wort sei euch schrecklich und treffe euch hart? Ihr selbst seid es, nicht ein Wort, was euch beschwerlich fällt! Und wenn ich bloß in Worte fasse, was ihr in Thaten übt, warum seid ihr unwillig? Ist das nicht unvernünftig? Wollte Gott, ich spräche die Unwahrheit! Gerne würde ich am jüngsten Tage den Schein auf mich nehmen, als hatte ich euch unrecht gethan, als hätte ich euch grundlose Vorwürfe gemacht, viel lieber als daß ich sehe, wie diese Anklage gegen euch erhoben wird.
Aber nicht nur ihr selber achtet die Menschen mehr als Gott, sondern ihr zwingt auch andere das zu thun. Viele haben ihre Dienstboten und Kinder dazu gezwungen. Die Einen haben sie wider ihren Willen zu einer Heirath gezwungen, Andere zu unpassenden Dienstleistungen, zu verbrecherischer Liebe, zu Diebstählen, zu Raub und Gewaltthat. Das ist ein doppeltes Vergehen, und dieser Zwang macht eine Verzeihung für sie (fast) unmöglich. Wenn du selber ungerne und nur auf Befehl eines Höhern eine Sünde begehst, so gilt nicht einmal in diesem Falle eine Entschuldigung; und um wie viel schlimmer ist erst die Sünde, wenn du Andere zwingst, in solche Sünden zu fallen! Was S. 510 gäbe es für einen solchen Menschen noch für eine Verzeihung! Dieß sage ich nicht, um euch zu verurtheilen, sondern um zu zeigen, wie tief wir gegen Gott verschuldet sind. Wenn es nämlich schon ein Frevel gegen Gott ist, die Menschen ihm gleich zu achten, dann ist es ein noch viel größerer, die Menschen höher zu achten als ihn. Wenn aber klar ist, daß solche Sünden, die gegen die Menschen gerichtet sind, in der Richtung gegen Gott viel schwerer werden, wie erst dann, wenn diese Sünde (gegen Gott) ihrer Natur nach schon größer und schwerer ist?
Es prüfe sich einmal Jemand, und er wird finden, daß er Alles der Menschen wegen thut. Wir würden einen hohen Grad der Seligkeit erreichen, wenn wir so viel um Gottes willen thäten, als wir um der Menschen wegen thun, um des Scheines, der Furcht, der Ehre vor den Menschen willen.
Wenn wir also so schwer verschuldet sind, dann müssen wir auch mit aller Bereitwilligkeit Denen, die uns beleidigen und übervortheilen, verzeihen, müssen Unbilden vergessen. Das ist ein Weg zur Sündenvergebung, der keine Mühe, kein Geld, der gar Nichts kostet, als einfach einen guten Willen. Man braucht nicht eine weite Reise zu machen, nicht ins Ausland zu gehen, keine Mühen und Gefahren zu übernehmen, sondern bloß zu wollen.
