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Durch gleiche Gränzen sind, meines Erachtens, ein König und ein Tyrann geschieden, obgleich beide von Seiten der Glücksgüter sich ähnlich sind; jeder von beiden über viele Menschen herrscht. Allein wer sich dem offenbaren Wohle der Unterthanen weiht und gern Mühen auf sich nimmt, daß jene keine Mühe haben, sich Gefahren unterzieht, daß jene in Sicherheit leben, und Nächte durchwacht und Sorge trägt, daß sie Tag und Nacht frei von Ungemach seyen, der ist ein Hirt unter den Schafen, und ein König unter den Menschen; wer aber der Herrschaft in Weichlichkeit genießt und die Schätze verpraßt, meinend, er müsse alle seine Begierden sättigen, so daß die Unterthanen seufzen, indem er den Gewinn einer großen Herrschaft darein setzt, daß Viele der Lust seines Herzens fröhnen, und, um es kurz zu sagen, wer nicht die Heerde mästet, sondern selbst von der Heerde gemästet werden will, den nenne ich einen Fleischer unter den Schafen, den erkläre ich als Tyrannen, sind die Unterthanen ein vernünftiges Volk. Dieß sei dir die Eine Richtschnur für das Königthum! S. 70 Unterwirf dich nun der Prüfung, und stimmst da damit überein, so magst du mit Recht den ehrwürdigen Namen des ehrwürdigen Amtes gebrauchen; stimmst du aber nicht damit überein, so versuche es, das Unharmonische zu ordnen und dich der Regel zu fügen; denn ich verzweifle an dem Alter nicht, daß es jedes Zuwachses fähig sey, wenn man es nur zum Tugendeifer anspornt. Mächtig neigt sich die Jugend nach beiden Seiten hin, so wie die Ströme, wo sich ein Ausweg öffnet, mit Ungestümm hervorbrechen. Deshalb bedarf auch ein junger König der Philosophie, daß sie sich seiner zuvor bemächtige, oder ihn von dem Sturze in Eines von beiden zurückhalte; denn an jede Tugend gränzt eine andere Schlechtigkeit, und man gleitet nicht aus jeder in eine andere, sondern in die nachbarliche. An das Königthum aber gränzt Tyrannei und zwar sehr nahe, so wie an Tapferkeit Tollkühnheit und an Freigebigkeit Verschwendung. Der Hochherzige wird, wenn ihn die Philosophie nicht innerhalb der Gränzen der Tugend bewahrt, sobald er sich vorneigt, prahlerisch und schlechtgesinnt. Demnach fürchte keine andere Krankheit, als die des Königthums, die Tyrannei, und unterscheide sie nach den Kennzeichen, welche die Rede angab. Das Wichtigste aber ist, daß eines Königs Sitte das Gesetz, eines Tyrannen Gesetz hingegen die Sitte ist; beide aber die Macht mit einander ge- S. 71 mein haben, wenn sich auch ihre Lebensweisen widerstreiten.
