2. Geschichte und Überlieferung der Schriften.
Was die Geschichte der dionysischen Schriften betrifft, so begegnen wir hier einem literarischen Unikum von immenser Tragweite und hoch instruktivem Interesse. Der vier Jahrhunderte währende Streit über die Echtheit, welcher bald nach 1500, nach einem Jahrtausend ruhigen Besitzstandes, entbrannte, erscheint nunmehr beendigt und somit ist die wissenschaftliche Kritik genau wieder auf dem Punkte angekommen, auf welchem sich in der ersten Periode des Auftauchens dieser Schriften der Wortführer der katholischen Partei beim Religionsgespräch in Konstantinopel 533, der gutbelesene Bischof Hypatius von Ephesus, befunden hat. Gegenüber den Severianern, die sich zur Verteidigung der monophysitischen Lehre nebst andern Vätern auch auf den Dionysius Areopagita beriefen, erklärte Hypatius rundweg, daß er die aus demselben vorgebrachten Zeugnisse durchaus ablehnen müsse. Sein Argument lautet: Wenn diese Schriften schon so lange vorhanden wären und von einem so berühmten Verfasser stammten, so hätten die großen Vorkämpfer der Orthodoxie, ein Athanasius und ein Cyrillus von Alexandrien, unbedingt in den theologischen Streitigkeiten sich ihrer bedient, weil sie ihnen vorzügliche Dienste gegen die Häretiker geleistet hätten 1. Tatsächlich waren Zitationen aus dem Areopagiten erst in den Streitschriften des monophysitischen Sektenhauptes Severus, 512—518 Patriarch von Antiochien, verwertet worden, dem bald sowohl eigene Parteigenossen wie später nestorianische und monotheletische Schriftsteller hierin folgten. Nur vereinzelte Stimmen unter den Katholiken traten anfänglich für den Areopagiten als den Verfasser ein (der Mönch Job, der Erzbischof Ephräm von Antiochien 527 S. 13 —545, der gelehrte Leontius von Jerusalem u. a.). Aber allmählich stieg trotz der ablehnenden Haltung des erwähnten Hypatius das Ansehen der fraglichen Schriften immer höher. Ihr überirdischer Enthusiasmus, das Neue und Überwältigende ihrer Konzeption, das hehre Dunkel ihrer Sprache wirkte ebenso auf den hohen Geist wie das fromme Gemüt hervorragender Männer der Kirche, die zumeist aus dem Mönchsstande hervorgegangen waren. Eulogius, Patriarch von Alexandrien 580—607, Papst Gregor der Große, mit Eulogius innig befreundet, Modestus, Patriarch von Jerusalem 631—634, Sophronius, Patriarch von der gleichen Kirche 634—638, und vor allen der Abt Maximus Konfessor (†662) waren von der Echtheit überzeugt und benutzten die Werke für ihre eigene Schriftstellerei. Maximus insbesondere leistete der Anerkennung und Verbreitung der Areopagitika den mächtigsten Vorschub, weil er in seinen Scholien zu denselben die bedenklich klingenden Stellen im korrekten Sinne erläuterte und auf dem Laterankonzil 649 zweifellos seinen Einfluß dahin geltend machte, daß die vielberegte Formel θεανδρικὴ ἐνέργεια, welche die Monotheleten aus dem Areopagiten entnommen hatten, gerade zugunsten der katholischen Lehre erklärt wurde. Nachdem Papst Martin I. auf diesem Konzil und später Papst Agatho in einem dogmatischen Schreiben an Kaiser Konstantin (680), weiterhin das Konzil von Konstantinopel 680 und das zweite Konzil von Nicäa 787 die Echtheit der Schriften vorausgesetzt hatten, verstummte für die fernere Zukunft, d. h. für das ganze Mittelalter, jeder nennenswerte Widerspruch.
Von Rom kamen die Werke schon unter Papst Paul I. (757—767) nach Frankreich. Noch wichtiger war die Übersendung des griechischen Exemplars, welches Kaiser Michael II. Ludwig dem Frommen 827 zum Geschenke machte. Abt Hilduin von St. Denys durfte das kostbare Manuskript in seinem Kloster verwahren und schrieb bei diesem Anlasse die „Areopagitica“, die den weiteren bereits aufgekommenen Irrtum, daß der heilige Märtyrer Dionysius von Paris mit dem Areopagiten eine Person sei, fest begründeten. Die lateinische Übersetzung, welche Skotus Erigena nach jener Hand- S. 14 schrift anfertigte, blieb für das Mittelalter die eigentliche und erste Quelle, aus welcher man, des Griechischen nicht mehr kundig, die Lehren des D. schöpfte. Die großen Meister der Scholastik und Mystik, Dichter und Geschichtschreiber, Polyhistoren and Volksschriftsteller vertrauten jetzt unbedenklich dem „großen Dionysius“ und sind überschwenglichen Lobes über ihn voll.
Im Zeitalter des Humanismus erfolgten die ersten Stöße gegen die unsicheren Fundamente des hochragenden Baues der Dionysiusliteratur. Aber nicht bloß Laurentius Valla und, seinen Spuren folgend, Erasmus, weiterhin die Männer der Reformation, Luther, Skultetus, Dalläus u. a. zerstörten den Nimbus dieser Werke; auch unter den hervorragendsten katholischen Gelehrten verschlossen sich ein Kajetanus, Morinus, Sirmond, Petavius, Lequien, Lenourry keineswegs den Schwierigkeiten, welche der materielle Inhalt und die stilistische Form für eine Zurückdatierung der Schriften in die apostolische Zeit ihnen aufdrängten. Indes vermochten selbst die schlagendsten Gründe, mit welchen namentlich der Oratorianer Morinus in seinem Commentarius de sacris ecclesiae ordinationibus die Echtheit bekämpfte, die Mehrheit der Katholiken nicht zu überzeugen. Die literarische Kontroverse nahm eine riesige Ausdehnung an und wurde mit aller Intensität geführt, da berühmte Namen, wie Baronius, Bellarmin, Lansselius, Corderius, Halloix, Delrio, de Rübeis, Lessius u. s. w. für die altehrwürdige Tradition eintraten. Im 19. Jahrhundert neigte sich die allgemeine Auffassung mehr und mehr der gegenteiligen Ansicht zu, namentlich die deutschen Theologen Möhler, Feßler, Döllinger, Hergenröther, Alzog, Funk hielten mit ihrem ablehnenden Urteil nicht zurück. Da trat 1861 Franz Hipler mit seiner schon obenerwähnten Hypothese hervor. Große Gelehrsamkeit, gewandte Darstellung und die edle Absicht, von dem Manne, der so vielen Jahrhunderten als ein unantastbarer Zeuge aus dem frühesten Altertum der Kirche gegolten hatte, den Verdacht einer bewußten Fälschung abzuwälzen, verschafften seinen Darlegungen eine sympathische Aufnahme seitens katholischer und protestantischer Forscher. Aber bei näherem Zusehen erwiesen S. 15 sich Hiplers Interpretationsversuche gewisser Stellen an welchen sich D. den Anschein gibt, der Apostelschüler des heiligen Paulus zu sein, nicht genügend, um den v on Hipler gewollten Sinn herauslesen zu können. Nicht die späteren Geschlechter haben sich in diesem Punkte geirrt, wie Hipler meinte, sondern der Text ist wirklich so gestaltet, daß man von einer mit Absicht durchgeführten Fälschung sprechen muß. Der Name des Areopagiten dient dem unbekannten, dem Ausgange des 5. und Anfang des 6. Jahrhunderts angehörenden Verfasser als fromme Maske, um sich leichter und wirksamer bei den Lesern einzuführen.
Noch vor Ablauf des 19. Jahrhunderts zog übrigens der edle Hipler selbst seine Ansicht zurück, nachdem er von den neuesten Ergebnissen der Dionysiusforschung, die sich an die Namen von Hugo Koch und des Herausgebers nachstehender Übersetzung knüpfen, Kenntnis erhalten hatte. Es erschienen nämlich 1895 fast gleichzeitig die von H. Koch und J. Stiglmayr ganz unabhängig geführten Untersuchungen, welche auf gleichen Wegen an das gleiche Ziel gelangten. Zur Grundlage diente beiden eine Abhandlung des Neuplatonikers Proklus (411—485) „de malorum subsistentia“, welche nur in einer barbarischen lateinischen Übersetzung von Morbeka (Cousin, Paris 1864) erhalten ist. Eine eingehende Vergleichung dieser Schrift mit dem IV. Kapitel aus der Abhandlung von den „göttlichen Namen“ (§ 19 —35) ergab das überraschende Resultat, daß der Verfasser der Areopagitischen Werke jene Abhandlung des Proklus gründlich exzerpiert hat. Weitere Arbeiten der beiden genannten Theologen förderten ganze Reihen von Parallelen in Gedankenformen, bildlichen Wendungen und markanten Ausdrücken zu Tage, bei welchen sich D. als der entlehnende Teil, Proklus und andere frühere Schriftsteller als die Quelle darstellten. Demzufolge sind denn auch die kompetentesten Fachmänner, Bardenhewer, Funk, Ehrhard, Diekamp, Rauschen, de Smedt S. J., Duchesne, Batiffol u. s. w., nicht minder die protestantischen Kenner der altchristlichen Literatur Geizer, Harnack, Krüger, Bonwetsch u. a. durchaus zustimmend einem solchen Resultate beigetreten. „Die S. 16 Akten über diese, die Jahrhunderte erfüllende Streitfrage sind demnach geschlossen“ (Geizer).
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Näheres s. in meinem Programm: „Das Aufkommen der Pseudo-Dionysischen Schriften…“ (Programm). Feldkirch, 1895, S. 59—63. ↩
