Aufbau des Briefes
Mit einer gewissen Vorsicht weit ausholend beginnt der Briefschreiber seine Antwort auf den von Demophilus erhaltenen Bericht über den Vorfall, der sich im Presbyterium zugetragen hat. An den Hinweis auf Moses, der in der Hl. Schrift wegen seiner Milde gerühmt wird und nur dann die Anschauung Gottes genoß, wenn er dieser Tugend nicht untreu wurde, schließen sich im Eingang die Beispiele von Job, Joseph von Ägypten, Abel und den heiligen Engeln, die allenthalben in Wort und Tat sich gegen die Menschen sanft und milde erwiesen. Aber noch höher zeigt der geistliche Lehrer hinauf auf das unübertreffliche Vorbild des sanftmütigsten Christus, der nicht nur aus übergroßer Güte alles ins Dasein gerufen hat und darin erhält, sondern sogar die Abtrünnigen mit Liebe umfängt und bei ihrer reuigen Rückkehr freudig aufnimmt und — wie die Parabel vom verlorenen Sohne lehrt — ein Festmahl mit seinen guten Freunden veranstaltet.
Jetzt erst wendet sich die Rede dem Benehmen des Demophilus zu: er verdient ob desselben heilsame Be- S. 165 lehrung und soll einsehen, daß die Freude des Vaters über den geretteten Sohn durchaus berechtigt war, eine Freude, wie sie der gute Hirte empfindet, der das verirrte Schäflein auf seinen Schultern heimträgt, der seine Sonne über Gute und Böse aufgehen läßt und sogar sein Leben für die Sünder hingibt. Der plastischen Schilderung der Christusliebe folgt in jähem Umschlag die drastische Zeichnung der rohen und unheiligen Gewalttat des Demophilus. Er traktierte einen reuigen Pönitenten mit Fußtritten, stieß ihn vom Bußgerichte hinweg, hörte nicht auf dessen Bitte um Schonung, beschimpfte obendrein den Priester als unberechtigten Verwalter des Sakramentes und wies ihn mit dem armen Sünder aus dem Presbyterium (Adyton) hinaus, in das er, der Laienmönch, wider Fug und Recht in fanatischem Übereifer eingedrungen war. Also zu dem einen Frevel auch noch die Entheiligung des Ortes, wohin nur den Priestern für priesterliche Funktionen der Zutritt gestattet ist! Demophilus hat sich in seinem Briefe an „Dionysius“ als Schützer des Heiligen gerühmt und es in Gewahrsam genommen. Nun folgt eine kategorische Erklärung, die der anmaßende und ungestüme Mönch ein für allemal sich zu Gemüte führen soll. An der von Gott festgelegten Ordnung darf um keinen Preis gerüttelt werden; es ist Torheit, um der Ehre Gottes willen den Willen Gottes zu übertreten, wie es Demophilus getan hat. Die Ordnung aber, die es aufrechtzuerhalten gilt, besteht darin, daß die Mitglieder der tiefern Rangstufe durchaus kein Recht sich beilegen dürfen, die Inhaber höherer Stellungen zurechtzuweisen, selbst nicht in dem Falle, daß diese gefehlt hätten. Das ist die strenge hierarchische Abstufung, welche unter den Engeln herrscht und in der kirchlichen Hierarchie sich fortsetzt in Bischöfen, Priestern, Diakonen, Mönchen, Gemeinde. Eine symbolische Ausdrucksform dieses Gesetzes steht Demophilus vor Augen in den äußerlichen Abständen vom Altar, den zunächst Bischof und Priester umstehen, während die S. 166 Diakonen hinter ihnen ihren Standort einnehmen, die Mönche aber ihren Platz an den Eingangspforten zum Heiligtum nicht verlassen dürfen, weil sie eben dem Volke näher stehen als den Priestern. Sie dürfen an dem Heiligen Anteil nehmen, aber keineswegs gleich den Priestern es ausspenden. Den Priestern ist es vorbehalten, das Heilige aus dem abgeschlossenen Raume herauszutragen und den Mönchen, der Gemeinde und den auf den Stufen der Reinigung Befindlichen zu zeigen, Demophilus hat durch sein unbefugtes Eindringen das Heilige entehrt und spielt sich auf als dessen Hüter — er, der nichts sieht und nichts hört und nichts kann und die heiligen Schriften mit törichten Worten bestreitet!
Hageldicht sind die scharfen Rügeworte auf Demophilus niedergefallen. Es ist Zeit, wieder etwas versöhnlich und motivierend einzulenken. An überzeugenden Beispielen fehlt es nicht. Der eigenmächtig handelnde Statthalter wird vom König zur Strafe gezogen, der kecke Kritiker beim Richterspruch des Fürsten hat zu büßen. Ozias, Saul, die den Herrn Jesus anerkennenden Dämonen handelten in ungehöriger Weise, während die Sache selbst nicht verwerflich war, und doch mißfielen sie Gott. Gemäß dem Worte Gottes darf kein Eindringling, kein Inhaber eines untergeordneten Ranges den liturgischen Dienst einer höheren Stufe versehen. Der Hohepriester allein betrat einmal im Jahre das Allerheiligste, die Priester decken das Heilige zu, die Leviten dürfen es nicht berühren. Ozias, Maria, Schwester des Moses, die Söhne des Skevas erfuhren für ihre Übergriffe harte Strafen. Stellen aus Jeremias (23, 31), Isaias (71, 5), Matth. (7, 25) schärfen außerdem das Gesagte nachdrücklichst ein. Mithin überhebe man sich nicht!
Hier fingiert Dionysius einen temperamentvollen Einwurf des Demophilus: „Soll es also den Priestern erlaubt sein, sich über Gesetze, Tugenden, Standespflichten hinwegzusetzen?“ Die Antwort wird etwas versüßt S. 167 durch die Versicherung, daß es Dionysius nur um das Beste des Demophilus zu tun ist, um dann wieder auf das hierarchische Verhältnis in der Engelswelt zu verweisen. Allerdings, wenn einer ohne das Licht und die lichtspendende Kraft des Priestertums zu besitzen sich in den heiligen Ordo unwürdig hineindrängt und die heiligen Mysterien feiert, so ist er kein Priester, sondern ein Betrüger, ein Wolf im Schafspelz. Aber Demophilus hat trotzdem nicht das Recht, solche Fehler zu korrigieren. Gott will, daß dem Rechten auf rechte Weise gedient werde, immer im Einklang mit der betreffenden Würde und Stellung, wie auch für die Engel die Funktionen, die sie, von Gott hierarchisch geordnet, an uns ausüben, genau bestimmt und abgegrenzt sind. Nicht bloß in der moralischen, sondern auch in der physischen und kosmischen Welt gilt das Gesetz von Über- und Unterordnung. Also soll auch Demophilus seiner Leidenschaft eine feste Grenze setzen.
Aus dem gewöhnlichen Leben genommene Beispiele machen schon das Gesagte einleuchtend, weil sie dem allgemeinen menschlichen Empfinden entsprechen. Wer empört sich nicht gegen einen Knecht, der seinen Herrn, gegen einen Jüngern, der einen ältern Mann, gegen einen Sohn, der seinen Vater übel behandelt? „Müssen wir uns nicht schämen, wenn die Vernunft durch blinde Leidenschaft getrübt und von ihrer herrschenden Stellung verdrängt wird? Wenn durch unsere Verwischung der Standesunterschiede offene Zwietracht und Empörung hervorgerufen wird? Nur wer seinem eigenen Hause gut vorsteht, taugt auch zu Größerem.“ Also noch einmal sei es Demophilus eingeschärft: er halte Ordnung in sich selbst und setze seiner Leidenschaftlichkeit die gebührende Grenze; ihm seien die Liturgen (Diakone), diesen die Priester, den Priestern die Hierarchen, den Hierarchen die Apostel und die Nachfolger der Apostel übergeordnet. Wenn eine Grenzüberschreitung vorkommt, so soll sie innerhalb derselben Rangstufe aus- S. 168 geglichen werden, damit ja die Gesamtordnung nicht gestört sei. Darnach muß Demophilus sich in Zukunft richten.
Mehr als genug sind der Mahnungen und Belehrungen im Briefe niedergeschrieben. Zum Schlusse schlägt der Verfasser einen Ton an, der von tiefem Wehklagen alsbald zu drohenden Vorstellungen übergeht. Der traurige Fall des Therapeuten ist für Dionysius, der sich als dessen Weihepriester erkennt, eine Quelle der Tränen. Sollte aber Demophilus sein Unrecht nicht einsehen, daß er, zum Diener des guten Herrn und Meisters geweiht, auch seiner Güte sich befleißen müsse, dann ist er als Ausgestoßener zu betrachten, dann möge er sich einen andern Gott und einen andern Kult Gottes suchen und zu andern Priestern gehen, bei denen er zu dem Zwecke geweiht werde, seiner Unmenschlichkeit zu frönen! Wir sind doch selbst für einen heiligen Dienst geweiht worden und bedürfen ebenfalls der Menschenfreundlichkeit Gottes. Doppelte Sünde ist es, zu fehlen und den Fehler nicht einsehen zu wollen, ja ihn zu verteidigen, Dionysius hätte den Frevel gar nicht für möglich gehalten, wenn Demophilus nicht selbst darüber geschrieben hätte. Sein Gebaren heißt dem Priester sogar die gültige Wahl zum geistlichen Stande bestreiten. Wie weit entfernt er sich vom Beispiel des guten Hirten, der sein Leben für die Schafe hingibt und den unbarmherzigen Knecht so strenge verurteilt! Ja am Kreuze betet er noch für seine Feinde und tadelt die Jünger, die ihn zur Rache an den Samaritanern auffordern. Der Hinweis auf unsern Hohenpriester, der Mitleid mit unsern Schwächen hat, und auf Matth. 12, 19; Is. 42, 2; 1 Joh. 2, 2 benimmt der Berufung des Demophilus auf das Beispiel eines Phinees und Elias allen Wert. Wie man Blinde nicht straft, sondern an der Hand führt, so soll man die Unwissenden milde belehren. Auch der Sünder, der beichten wollte, war blind und begehrte nach Licht — und wie ist es ihm bei Demophilus ergangen? Wollen wir nicht uns selbst S. 169 das Schwert in die Brust stoßen, indem wir Derartiges tun! Gedenken wir vielmehr des herrlichen Lohnes, der den Barmherzigen hier und im Jenseits in Aussicht steht, sowie der ewigen Strafe der wegen ihrer Hartherzigkeit Verworfenen! Dionysius selbst ist von heiliger Furcht erfüllt, wenn er der Möglichkeit dieses doppelten Ausganges gedenkt. Zum Schlusse erzählt er die Vision des Karpus, die in konkreter Weise alles Vorhergehende illustriert und dem paränetisch gehaltenen Epilog die Krone aufsetzt.
