Gefangenschaft und Befreiung
(16) als ich nun nach Irland gekommen war, mußte ich täglich Vieh hüten, und dabei betete ich mehrmals am Tage. Da nahm die Liebe zu Gott und die Gottesfurcht immer mehr zu, der Glaube wurde vergrößert und der Geist erweckt, so daß ich an einem Tag bis an hundert Gebete sprach und ähnlich in der Nacht. Auch wenn ich im Wald und auf dem Berge bleiben mußte, stand ich vor Tagesanbruch zum Gebet auf, mochte es schneien, frieren oder regnen; ich fühlte keine Beschwerde, und es war keine Trägheit in mir, weil, wie ich jetzt sehe, der Geist in mir glühte. (17) Dort hörte ich einmal in der N acht im Schlaf eine Stimme, die mir sagte „Lobenswert ist dein Fasten, du S. 19 wirst bald in dein Vaterland kommen." nach kurzer Zeit hörte ich wiederum eine Antwort, die mir sagte "Siehe, dein Schiff ist bereit." Und es konnte doch nicht nahe sein, sondern nur etwa 200 Meilen entfernt. Ich war niemals dort gewesen und hatte dort auch keine Bekannten. Als ich mich darauf zur Flucht entschlossen und den Mann verlassen hatte, bei dem ich sechs Jahre gelebt, wanderte ich in der Kraft Gottes, der meinen Weg zum Guten lenkte, ohne Furcht, bis ich zu jenem Schiff gelangte. (18) An dem Tag, an dem ich ankam, fuhr gerade ein Schiff ab 1. S. 20 Ich sagte, daß ich einen Grund hatte, mit ihnen zu fahren. Aber dem Steuermann gefiel es nicht, und entrüstet gab er mir zur Antwort "Auf keinen Fall darfst du versuchen, mit uns zu fahren!" Als ich das gehört hatte, verließ ich sie, um zu einer Hütte zu gelangen, wo ich wohnte. Auf dem Wege begann ich zu beten. Bevor ich mein Gebet vollendet hatte, hörte ich, wie einer von ihnen hinter mir mit lauter Stimme rief: „Komm schnell, denn sie lassen dich rufen." Da kehrte ich sofort zu ihnen zurück, und sie sagten mir „Komm, wir nehmen dich ehrlich auf. Schließe Freundschaft mit uns, wie du willst." An jenem Tag lehnte ich allerdings eine enge Gemeinschaft mit ihnen ab aus Furcht vor dem Hernn. Aber ich hoffte, daß sie den Glauben an Jesus Christus annehmen würden — sie waren Heiden —, und wurde deshalb mit ihnen einig, und gleich darauf fuhren wir ab.
(19) Am dritten Tag erreichten wir das Land und wanderten 28 Tage durch eine verlassene Gegend. Die Nahrung begann zu fehlen, und der Hunger bekam Gewalt über sie. Eines Tages fing der Steuermann an und sagte zu mir „Christ, was sagst du? Dein Gott ist groß und allmächtig. Warum kannst du denn nicht für uns beten? Wir sind in Gefahr, zu verhungern. Schwerlich werden wir noch einen Menschen zu Gesicht bekommen." Ich sagte ihnen nun ganz unumwunden „Wendet euch ehrlich und mit ganzem Herzen an den Herrn, meinen Gott, dem nichts unmöglich ist, S. 21 daß er euch heute Speise auf euern Weg sende, bis ihr satt werdet. Er hat ja überall im Überfluß." Und mit Gottes Hilfe geschah es auch. Eine Herde Schweine tauchte vor unsern Augen auf; davon schlachteten sie eine Menge, und wir blieben zwei Nächte. Sie erholten sich gut, und ihre Hunde2 wurden wieder satt; viele waren ja zusammengebrochen und am Wege halbtot liegen geblieben*.
Darauf dankten sie Gott überschwenglich, und ich stand bei ihnen in hohen Ehren. In diesen Tagen hatten sie reichlich Speise. Sie fanden auch wilden Honig und reichten mir etwas davon. Einer von ihnen sagte "Das ist von einem Opfer." Gott sei es gedankt, ich habe nichts davon genossen. (20) ln der darauffolgenden Nacht bereitete mir, während ich schlief, der Satan eine schwere Versuchung. Daran werde ich denken, solange ich in diesem Leibe weile. Es war, als ob ein mächtiger Stein auf mich fiele, und ich konnte kein Glied rühren. Woher kam da in meinen Geist der Gedanke, daß ich "Helias!" rief? Da sah ich am Himmel die Sonne aufgehen, und während ich mit allen Kräften "Helias, Helias!" rief, fiel das Licht der Sonne auf mich und nahm sofort alle Schwere von mir.3 S. 22 Ich glaube, daß mir von Christus, meinem Herrn, geholfen wurde und daß sein Geist schon damals für mich rief. Und ich hoffe, daß es auch am Tage meiner Bedrängnis so sein wird, wie es im Evangelium heißt An jenem Tag, so bezeugt der Herr, seid nicht ihr die Redenden, sondern der Geist eures Vaters redet in euch.
(21) So wurde ich nach vielen Jahren wiederum ein Gefangener.4 Jene Nacht nun war die erste, die ich in ihrer Gemeinschaft zubrachte. Ich hörte aber eine göttliche Antwort, die mir sagte „Zwei Monate wirst du bei ihnen bleiben." So kam es auch. In der sechzigsten Nacht nach jener befreite mich der Herr aus ihren Händen. (22) Auch auf der weiteren Reise hatte er für unsere Speise, für Feuer und für Trockenheit gesorgt, bis wir am zehnten Tag alle ans Ziel kamen. Wie ich oben sagte, wanderten wir 28 Tage lang durch eine verlassene Gegend. In der Nacht, wo wir alle ans Ziel kamen, hatten wir nichts mehr an richtiger Speise.
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Die Auffassung der Vorgänge, die der Übersetzung zu Grunde liegt, ist folgende: Patricius wußte, daß ein Schiff für ihn bereit sei, mußte aber erst den nächsten Hafen aufsuchen. Als er dort ankam, erfuhr er sogleich von der Abfahrt eines Schiffes. Es war ihm klar, daß dies das bezeichnete sei, und das sagte er wohl auch den Schiffsleuten. Der Steuermann hatte zunächst keine Lust, auf das ihm unheimlich oder betrügerisch scheinende Anerbieten einzugehen, besann sich aber bald anders. Patricius, der anscheinend zuerst eine Sonderstellung verlangt batte, beharrte dabei, eine engere Gemeinschaft (Speisegemeinschaft? Der verwendete Ausdruck sugere mamellas ist noch nicht befriedigend erklärt) abzulehnen, doch da er, bereits vom Missionsberuf erfüllt, die heidnische Besatzung für das Christentum zu gewinnen hoffte, wurde er — doch wohl unter Zusicherung einer gewissen Sonderstellung — mit ihnen einig. Diese Sonderstellung aber scheint er gegen Ende der Wanderung durch das verwüstete Gebiet irgendwie eingebüßt zu haben, so daß er als Gefangener behandelt wurde oder sich zumindest als solcher fühlte. ↩
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Vgl. Einleitung S. 3. ↩
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Wir fühlen uns daran erinnert, daß auf griechischem Sprachgebiet der Name des Propheten Elias (Helias) mit dem der Sonne (Helios) in Beziehung gesetzt wurde. Es ist aber wenig wahrscheinlich, daß Patricius davon gehört hatte. ↩
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Über diese zweite Gefangenschaft vgl. Einleitung S. 4. ↩
