2. Sind die Bösen wahrhaft glücklich und die Guten wahrhaft unglücklich?
Ich glaube, wir haben es nicht nötig, zum Beweis einer so klaren Sache auch noch biblische Zeugnisse an dieser Stelle heranzuziehen, vor allem weil die heiligen Worte so völlig und so unwiderleglich allen Grundsätzen der S. 44 Gottlosen widersprechen, daß wir, wenn wir uns auch nur mit ihren später zu nennenden Verleumdungen abgeben, auch ihre oben erwähnten Aussagen widerlegen können. Sie sagen also, Gott lasse alles an sich vorübergehen; er zügle weder die Bösewichte, noch schütze er die Guten, und deshalb sei auf dieser Welt der in jeder Beziehung schlechtere Zustand der, in dem sich die besseren Menschen befänden: denn die Guten lebten in Armut, die Schlechten in Überfluß, die Guten in der Schwachheit, die Schlechten in der Kraft, die Guten immer in Trauer, die Schlechten immer in eitel Freude, die Guten in Mühsal und Verachtung, die Schlechten in Glück und Ehren. Nun frage ich zuerst diejenigen, die über diese Zustände Schmerz empfinden oder Klage führen: Dauern sie die Heiligen, das heißt die wahren und gläubigen Christen, oder die falschen Christen und die Betrüger? Sind es die Scheinheiligen, dann ist der Schmerz überflüssig, der bedauert, wenn die Schlechten nicht glücklich sind, da insgemein alle Bösewichter, wenn ihnen der Erfolg günstig ist, noch schlechter werden; sie freuen sich, daß ihnen ihr ruchloses Tun so gut hinausgehe; und deshalb oder gerade deswegen müssen sie ja ins größte Unglück geraten, damit sie einmal von ihrer Bosheit ablassen, wenn sie für ihre höchst verruchten Handel beständig das Wort Religion im Munde führen und zu ihren ganz unsauberen Machenschaften die Heiligmäßigkeit wie ein Schild vortragen. Wägt man ihre Schandtaten gegen ihr Unglück ab, so ergibt sich, daß sie noch weniger elend sind, als es sich für sie gebührt; denn mögen sie auch in einem oder dem anderen Mißgeschick stecken sie sind trotzdem noch nicht so unglücklich wie schlecht. Sie sind also gewiß nicht bedauernswert, daß sie nicht reich und glücklich sind; noch viel weniger aber die heiligen Christen; denn sie können gar nichts anderes sein als glücklich, mögen sie auch den Unwissenden noch so elend vorkommen. Wenn aber jemand glaubt, sie seien unglücklich wegen ihrer Schwachheit S. 45 oder ihrer Armut oder anderer derartiger Dinge, auf denen die große Welt ihr Glück begründet zu haben meint, so ist das überflüssige Mühe: denn niemand kann nach eines anderen Gefühl unglücklich sein, nur nach seinem eigenen. Und so können auch die nicht nach irgendeines Menschen falscher Ansicht elend sein, die wirklich glücklich sind im eigenen Bewußtsein. Denn das ist meine Meinung: niemand ist glücklicher als die, die nach ihrer inneren Überzeugung und nach ihrem eigenen Willen handeln. Niederen Standes sind die Gottgeweihten, sie wollen es so; sie sind arm, Armut ist ihre Lust; sie haben keinen Ehrgeiz, Ehrgeiz verschmähen sie; sie sind ohne äußere Ehren, Ehren fliehen sie; sie trauern, sie begehren nach Traurigkeit; sie sind schwach, sie freuen sich ihrer Schwachheit. "Denn wenn ich krank bin, dann bin ich mächtig", 1 sagt der Apostel. Und er denkt mit Recht so, er, zu dem Gott selbst redet: "Es genügt dir meine Gnade; denn die Kraft wird vollendet in Schwachheit.“ 2Über diese Kümmernis der Krankheit brauchen wir also nicht im mindesten zu klagen: wir wissen ja, sie ist die Mutter der Tugenden. Was es daher auch damit für eine Bewandtnis habe: alle wahrhaft gottgeweihten Seelen sind glücklich zu preisen, weil doch bei aller Härte und aller Rauheit des Geschicks niemand glückseliger ist als derjenige, der ist, was er sein will. Allerdings mag es auch zu jeder Zeit welche geben, die den Weg des Lasters und der Schande gehen und nach ihrer Ansicht wohl glücklich sind, weil sie ihren Willen befriedigen: In Wirklichkeit jedoch sind sie nicht glücklich, weil sie das, was sie wollen, eigentlich nicht wollen sollten. Die Gottgeweihten aber sind aus dem Grund glückseliger als alle andern, weil sie haben, was sie wollen, und noch dazu Besseres, als was sie besitzen, überhaupt nicht besitzen können. Daher sind Mühsal und Fasten und Armut und Niedrigkeit und Krankheit nicht allen denen lästig, die sie tragen müssen, sondern nur S. 46 denen, die sich des Tragens weigern. Denn ob schwer, ob leicht, auf den Willen des Trägers kommt es an. Ist doch nichts so leicht, daß es nicht dem der es wider Willen tut, schwer fiele; und so ist auch nichts so schwer, daß es nicht dem, der es freudig auf sich nimmt, leicht erscheine. Oder sollen wir etwa annehmen, daß es jenen Männern des Altertums mit ihrer erprobten Tüchtigkeit, einem Fabius, einem Fabricius, einem Cincinnatus, schwer aufs Herz gefallen ist, daß sie arm waren, sie, die nicht reich sein wollten, da sie ja all ihr Sinnen und all ihr Trachten auf das allgemeine Beste übertrugen und das Wachstum der staatlichen Macht durch ihr eigenes Armsein förderten? Trugen sie etwa damals ihre kärgliche und ländliche Lebensweise nur mit Seufzen und Wehklagen, da sie das harte Bauernmahl am Herde dort, wo sie es gekocht hatten, einnahmen und sie dies Mahl selbst nur erst spät am Abend verzehren konnten? 3Empfanden sie etwa als Last, daß sie nicht mit der Gesinnung eines reichen Geizhalses auf Talenten Goldes sitzen konnten, sie, die sogar den Gebrauch des Silbergeldes gesetzlich untersagten? Erachteten sie es etwa als Strafe für Gelüste oder Begierden, daß sie keine mit Goldstücken prall gefüllten Geldbeutel trugen, wenn sie einen Patrizier der Ratsversammlung für unwürdig erklärten, weil er bis zu zehn Pfund Silber hatte reich sein wollen? 4Sie S. 47 verachteten damals, wie ich glaube, nicht die Lebensweise der Armen, wenn sie ein rauhes, kurzes Gewand anzogen, wenn sie vom Pfluge weg zu den Faszen geholt wurden und sie in dem Augenblick, da sie mit dem Ornat eines Konsuls bekleidet werden sollten, vielleicht gerade mit dem Purpurmantel, den sie anlegen wollten, den schweißnassen Staub sich vom Gesichte wischten. Daher können wir sagen: Damals regierten jene Beamten, da sie arm waren, einen wohlhabenden Staat, jetzt hingegen läßt eine reiche Machthaberschaft den Staat verarmen! Und doch, frage ich, was bedeutet es für eine Torheit oder Blindheit, zu glauben, es könne privater Reichtum Bestand haben, wenn der Staat darben und betteln muß? So waren also jene alten Römer gesinnt; so haben sie seinerzeit, da sie Gott noch nicht kannten, schon den Reichtum verachtet, wie ihn jetzt die verschmähen, die dem Herrn folgen. Indessen, was spreche ich von denen, die aus Sorge für die Ausbreitung des Reiches durch die Verachtung des eigenen Vermögens beitrugen zum öffentlichen Gut und, mochten sie auch persönlich mittellos sein, doch Überfluß hatten an allgemeinem Reichtum? Entschlugen sich doch einige Griechen, die nach Weisheit strebten, fast jeglichen Gebrauches ihres Vermögens und jeglicher Ehrsucht; und damit nicht genug: sie setzten ihrer Lehre die Krone auf durch die Verachtung von Schmerz und Tod. 5 Sie sagten sich ja, daß auch in Ketten und Kerker der Weise glücklich sei. Sie wollten bezeugen, die Macht der Tugend sei so groß, daß niemals ein guter Mensch nicht glücklich sein könne. Wenn daher S. 48 schon jene Leute von einigen verständigen Beurteilern auch unserer Tage nicht für unglücklich angesehen werden, die für ihre Mühen keinen anderen Lohn ernteten außer einzig das Lob, das ihnen die Mitwelt spendete, um wieviel weniger darf man die frommen heiligmäßigen Männer für unglücklich erachten, die sich im Diesseits schon an ihrem Glauben erquicken können und dereinst den Lohn der zukünftigen Seligkeit erlangen werden.
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2 Kor. 12, 10. ↩
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Ebd. 12, 9. ↩
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Valerius Maximus IV 3, 5. Salvian meint hier M. Curius Dentatus, den Besieger der Samniten. Er zeigt hier und weiter unten, wo er wieder ein Beispiel alter Römertugend aus Val. Maximus anführt (S. Anm. 2), daß er der stoischen – ethisch gerichteten – Geschichtsauffassung huldigt. Darin berührt er sich „stark mit Cicero, der auch nur die Idealisierung des altrömischen Volkslebens im Gegensatz zum späteren Luxus übernimmt“. (Vgl. Schäfer a .a. O. S. 64). ↩
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Val. Max. II 9,4. Cornelius Rufinus, der zweimal das Konsulat verwaltet und die Diktatur aufs ehrenvollste ausgeübt hatte, wurde vom Zensor Fabricius Luscinius aus dem ordo senatorius ausgestoßen, weil er zehn Pfund Silber erworben und durch seinen Luxus ein schlechtes Beispiel gegeben hatte. ↩
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Vgl. Epiktets Diatriben. (Epicteti Dissertationes ab Arriano digestae rec. H. Schenkl, 2. Aufl. Leipzig 1916.) Über die Verachtung von Krankheit und Tod handelt Ep. Diatr. III 26, 36 ff.; über die Bedeutungslosigkeit der Verurteilung zu Gefängnis, Verbannung und Tod I 1, 18 ff. Da der Phrygier Epiktet (gest. wohl 138 n. Chr.), auf dem auch die Philosophie Kaiser Mark Aurels fußt, ein Stoiker war, ist der Zusammenhang zwischen Salvian und der Stoa auch hier bewiesen. ↩
