3. Körperliche Schwachheit dient der Heiligung des Lebens
Einer von denen, über die wir uns beklagen, sagte zu einem heiligmäßigen Mann, der nach der Forderung der Wahrheit dachte, nämlich, daß Gott alles lenke und seine Regierung und Leitung so einrichte, wie er es für das Menschengeschlecht für notwendig erachte: ,.Warum also, frage ich dich, bist du selber krank?" Und das tat er sicher mit dem Nebengedanken: Wenn Gott nach deiner Meinung in diesem Leben alles lenkt, wenn Gott alles ordnet, wie ist es denkbar, daß der Mensch gesund und kräftig ist, der mir als öffentlicher Sünder bekannt ist, und du schwächlich bist, an dessen Heiligmäßigkeit ich nicht zweifeln kann? Wer sollte nicht dieses tiefgründige Denken des Mannes bewundern, der da die Verdienste und Tugenden der Gottesfürchtigen so großer Gegenleistungen für würdig erachtet, daß nach seiner Ansicht in diesem Leben auf Erden Körperfülle und Körperkraft der Lohn für ein heiliges Leben sein mußten? So antworte ich denn nicht etwa im Namen eines einzigen, nein, sämtlicher gottgeweihter Personen: Du fragst also - gleichviel, wer du seist - du fragst, wie es komme, daß die heiligmäßigen Männer von schwachem Körper sind? Meine Antwort ist kurz: Die Heiligmäßigen lassen sich deshalb schwach werden, weil sie kaum heilig leben könnten, wenn sie stark blieben. S. 49 Denn meines Erachtens sind so ziemlich alle Menschen kräftig durch Speise und Trank, schwach aber durch Enthaltung und Fasten und Nüchternheit. Es ist also gar nicht sonderbar, daß die Menschen schwach sind, die sich die Nutznießung von all dem versagen, was andere stark macht. Und sie haben vernünftigen Grund zu dieser Entsagung, da doch der Apostel Paulus von sich selber sagt: "Ich geißle meinen Leib und unterwerfe ihn der Knechtschaft, um nicht selbst schuldig befunden zu werden, während ich andern predigte." 1 Wenn sogar der Apostel es für seine Pflicht hält, einen schwachen Körper zu erlangen, wer würde sich noch bei verständigem Denken dieser Pflicht entziehen? Wenn der Apostel rein leibliche Stärke fürchtet, wer will da noch vernünftigerweise beanspruchen, stark zu sein? Das also ist der logische Grund, warum die Christo geweihten Menschen schwachen Leibes sind und sein wollen. Aber fern sei es von uns, zu meinen, die Frommen würden von Gott vernachlässigt gerade auf Grund des Umstandes, dessentwegen - wie wir fest glauben - sie mehr geliebt werden. Wir lesen, daß der Jünger Timotheus von sehr schwächlichem Körperbau gewesen ist. Nun, wurde er von Gott mißachtet oder hat er wegen seiner Schwächlichkeit Christus nicht Wohlgefallen, er, der gerade deshalb krank sein wollte, um wohlzugefallen? Ließ ihn doch auch der Apostel Paulus, 2 obwohl er schon an einer sehr heftigen Krankheit litt, trotzdem nur ganz wenig Wein nehmen und kosten. Das bedeutet, er wollte, daß er auf diese Weise seiner Krankheit abhelfe, wollte aber nicht, daß er zu voller Kraft gelangte. Und warum das? Ja warum, außer deswegen, weil nach seinen eigenen Worten "das Fleisch begehrt wider den Geist, der Geist aber wider das Fleisch"? "Denn diese", sagt er, „streiten gegeneinander, auf daß ihr nicht jenes tuet, was immer ihr wollt". 3 Ganz vernünftig hat jemand zu dieser Stelle bemerkt: Wenn wir infolge des Wider- S. 50 strebens der körperlichen Kraft das nicht vollbringen können, was wir wünschen, so müssen wir am Leibe schwach werden, um unsere Wünsche verwirklichen zu können. Denn, sagt er, 4 die Schwäche des Fleisches schärft die Kraft des Geistes; und wenn die Glieder angegriffen sind, übertragen sich die körperlichen Kräfte auf die Fähigkeiten der Seele. Das Mark brennt nicht mehr in schändlicher Glut, den kranken Geist bringt nicht mehr verborgener Zündstoff zum Brennen, die ausschweifenden Sinne kommen nicht durch die verschiedenen Reizungen in Wallung, nein, ganz allein triumphiert die Seele, froh über die Krankheit des Körpers wie über die Unterjochung eines Widersachers. Das also, wie ich sagte, ist für die gottgeweihten Männer der Grund ihrer Leibesschwäche. Und daß er es ist, das leugnest, wie ich denke, nun auch du nicht mehr.
