6.
Die Besuche und den Verkehr seitens der nach dem Urteile der Welt hochstellenden Familien und ihrer Verwandten konnte sie nicht lange ertragen. Die Ehre, welche ihr angetan wurde, versetzte sie in Trauer, so daß sie, um den Lobsprüchen zu entgehen, zu eiliger Flucht sich entschloß. Als wegen gewisser Streitfragen, die zwischen den einzelnen Kirchen schwebten, kaiserliche Erlasse die Bischöfe des Morgen- und Abendlandes nach Rom beriefen1 , bekam sie berühmte Männer zu sehen, Stellvertreter Christi, nämlich Paulinus, den Bischof der Stadt Antiochia, und Epiphanius von Salamis auf Cypern, das jetzt Constantia heißt. Dem Epiphanius gewährte sie S. 101Gastfreundschaft, und den Paulinus, der in einem anderen Hause wohnte, behandelte sie in ihrer Menschenfreundlichkeit wie ihren eigenen Gast. Die Tugendhaftigkeit dieser Männer machte einen solchen Eindruck auf sie, daß sie beizeiten plante, ihr Vaterland zu verlassen. Ohne an ihr Haus, ihre Kinder, ihre Familie, ihr Besitztum oder sonst etwas, was zur Welt gehört, zu denken, ging ihr Verlangen dahin, sozusagen allein und ohne Begleitung in die Einsamkeit eines Antonius oder eines Paulus zu pilgern. Nachdem der Winter endlich vorüber und das Meer wieder schiffbar war, kehrten die Bischöfe zu ihren Kirchen zurück, und sie selbst segelte mit ihnen wenigstens im Geiste und dem Verlangen nach2 . Wozu soll ich es länger verschweigen? Sie ging hinunter zum Hafen, begleitet von ihrem Bruder, ihren Verwandten und Schwägern und, S. 102was den tiefsten Eindruck machte, gefolgt von ihren Kindern. Die Segel wurden bereits gehißt, und der Ruderschlag trug das Schiff auf die hohe See. Bittend streckte der kleine Toxotius am Ufer die Hände aus. Rufina, deren Hochzeit nahe bevorstand, beschwor die Mutter schweigend durch ihre Tränen, doch die Vermählung abzuwarten. Paula aber blickte trockenen Auges zum Himmel und besiegte durch die Anhänglichkeit an Gott ihre Zuneigung zu den Kindern. Sie vergaß ihre Mutterliebe, um sich als Magd Christi zu bewähren, wenn sie sich auch in ihrem Innern quälte und mit dem Schmerze kämpfte, gerade als ob ihre Glieder auseinandergerissen würden. Für alle wurde sie dadurch, daß sie eine so große Liebe zu überwinden verstand, ein Gegenstand höchster Bewunderung. Für den, der in Feindeshand gerät und sich zur harten Sklaverei gezwungen sieht, gibt es nichts Grausameres, als wenn seine Kinder von ihm getrennt werden. Hier aber erduldete gegen die Gesetze der Natur die Fülle des Glaubens diesen Schmerz, ja voll Freude verlangte ihr Geist danach. Sie überwand die Liebe zu ihren Kindern durch die größere Liebe gegen Gott, und nur in Eustochium fand sie Trost, welche ihr Vorhaben teilte und sie auf der Seereise begleitete. Unterdessen durchfurchte das Schiff das Meer, und während alle, die mit ihr fuhren, nach dem Gestade zurückblickten, hielt sie ihre Augen abgewandt, um diejenigen nicht mehr zu sehen, welche sie ohne Schmerz nicht sehen konnte. Ich kann sagen, keine Mutter liebte so wie sie ihre Kinder. Vor ihrer Abreise hat sie ihnen alles geschenkt; sie enterbte sich auf Erden, um die himmlische Erbschaft antreten zu können.
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Die Synode wurde im Jahre 382 unter Papst Damasus behufs Beilegung des Schismas, das in der Kirche zu Antiochien zwischen Paulinus und Flavian ausgebrochen war, abgehalten. ↩
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Reinkens [Die Einsiedler des hl. Hieronymus, Schaffhausen 1864, 208 u. 226 Anm.] will aus diesen Worten schließen, daß Paula mit Paulinus und Epiphanias im Frühjahr 383 eine erste Wallfahrt ins Morgenland gemacht habe und von Pelusium aus vorerst noch einmal nach Rom zurückgekehrt sei, ehe sie sich für immer nach Bethlehem begab. Aber Paula reiste mit den hl. Bischöfen bloß in Gedanken und im Verlangen, voto et desiderio, aber nicht in der Tat. Die wirkliche Reise, auf die sich die nachfolgende Beschreibung bezieht, und die in Begleitung des hl. Hieronymus stattfand, erfolgte nicht im Frühjahr, sondern vom Spätsommer 385 durch den Winter bis zur heißen Jahreszeit 386. So lange Hieronymus in Rom weilte, blieben auch Paula und Eustochium in Rom. Das beweisen die Briefe an Eustochium über die Jungfrauschaft und über den Tod der Bläsilla. Die von Reinkens angeführten Worte: tanta velocitate reversa est, ut avem putares, beziehen sich nicht auf eine Rückkehr von Pelusium nach Rom, sondern von da nach Bethlehem. Hieronymus drückt sich über seine eigene Rückkehr bei derselben Gelegenheit in Apolog. adv. Ruf. III ganz ähnlich aus wie hier: Protinus concitato gradu Bethlehem meam reversus sum. Die im folgenden geschilderte Szene hat auch nur Sinn bei einer Trennung für immer, aber nicht bei Voraussetzung nochmaliger Rückkehr. Die Zeit, wo Hieronymus wegen seiner geistlichen Einwirkung auf Paula in Rom viele Verkennungen erdulden mußte, scheint er hier mit einem gewissen Zartgefühl absichtlich schnell zu übergehen und von der Reise in Gedanken mit den Bischöfen zur wirklich ausgeführten Reise überzuspringen. ↩
