3.
„Das Licht schien in die Finsternis und die Finsternis hat es nicht ergriffen“1. Dieser Ausspruch Johannes’ wird nicht von allen richtig verstanden. Das Licht war im dunklen Körper und wurde nicht von der Sünde verdeckt. Die Sünde verfolgt und erniedrigt nämlich alle Leiber wie eine Finsternis. Aber wegen des Lichtes, welches in diesem an sich dunklen Leibe strahlte, [230] vermochte ihn die Finsternis nicht zu erreichen, obwohl sie ihn verfolgte. Johannes legt Zeugnis ab über das Licht, damit durch ihn alle überzeugt werden möchten. Wenn es bloßes Licht gewesen wäre, warum hätte es dann eine Hülle2 gehabt? Warum wäre es dann nicht lieber so erschienen, wie es in der Tat war? Der Grund liegt eben darin, daß er in Wirklichkeit aus zwei Naturen besteht. Hätte er nur eine einzige, später verwandelte Natur, wie könnten sich dann zwei bei ihm vorfinden? [240] Hat er sich etwa diejenige, welche ihm nicht zu eigen gehören soll, irgendwoher gestohlen? Denn ich weiß nicht, welche von beiden du ihm eigentlich absprichst, seine Menschheit oder S. 123 seine Gottheit. Welche von beiden greift wohl jener an, der zu verächtlich ist, als daß ich seinen Namen nennen möchte?3 Denn siehe, wir sehen deutlich, daß in Christus zwei Naturen sind. [250] Wäre er nur Gott, so wäre sein Schlaf und sein Hunger eine Täuschung; wäre aber, wie jener behauptet, das Wort zu Fleisch geworden4, so würden seine Wunder ihm nicht angehören. Der ist ein verkehrter Disputator, der sich mit seiner eigenen Zunge schlägt. Ein Verständiger muß sich schämen mit ihm zu reden und ihm zuzuhören. Wer neue Lehren aufbringt, bildet sich viel auf sich ein; [260] er denkt: Ich bin so weise, daß ich aus meinem Verstand etwas Neues herausgebracht habe. Aus Hochmut sind seine zischenden und lispelnden Worte zusammengeknetet. Wer so von sich denkt, sollte sich der nicht gerade eben deshalb beschämt fühlen? Oder sollte es dem Verständigen nicht genügen, ihn durch das Wort des Paulus zu widerlegen5: „Wenn einer unter euch ist, der etwas weiß, so wisse er, daß er nichts ist!“ [270] Denn eben dies, daß er meint, er wisse etwas, überführt ihn, daß er nichts weiß außer jenem Verse: „Das Wort ist Fleisch geworden“, den er uns hersagt, wiederholt und dann zum dritten Male vorbringt; wie es aber Fleisch geworden ist, das sagt er nicht. Warum will er nicht lieber die Sache vom Anfang an der Reihe nach erzählen? Dadurch, daß er behauptet, das Wort habe sich aufgelöst, glaubt er gesiegt zu haben, obwohl er doch in Wahrheit unterlegen ist. [280] Warum erzählt er nicht wie Matthäus, der von Anfang an beginnt, indem er also berichtet6: „Die Geburt Christi geschah also: Maria, Josephs Verlobte, wurde vom Geiste schwanger gefunden!“ Wo bleibt nun der, welcher eben noch so übermütig war? Will er etwa die Schwan- S. 124 gerschaft Marias leugnen? Der Evangelist erzählt, daß sie schwanger gefunden wurde, aber nicht, daß sich das Wort verändert und verwandelt hat; [290] er verkündigt seine Empfängnis, aber nicht seine Umwandlung7. Der Engel sprach zu Maria: „Der Geist wird kommen und die Macht des Höchsten in dir weilen“8. Von woher man da noch eine Verwandlung in die Gottheit einführen kann, läßt sich nicht einsehen. Und wenn sie durchaus auf dem Ausdruck: „Er ist geworden“ bestehen wollen, nun so schreibt uns ja Paulus9 auch: „Er ist zum Fluche geworden“. Sollen wir deshalb den, welcher im Leibe den Fluch von uns hinweggenommen hat, zum Fluche vor Gott machen? [300] Sollen wir ferner wegen der Stelle: „Gott hat den, welcher keine Sünde getan hat, zur Sünde gemacht“10 denjenigen für Sünde erklären, in dessen Mund kein Trug war? Denn er hat vielmehr den Fluch von uns hinweggenommen und zu diesem Zwecke sich mit unserem Leibe bekleidet. Das Gesetz sagt11: „Verflucht ist der, welcher am Holze hängt“. Da er uns auf keine andere Weise als durch das Kreuz erlösen konnte, [310] so hob er durch sein Kreuz den Fluch auf, als sein Leib an das Holz gehängt wurde, und von nun an rühmen sich alle des Kreuzes, welche an den glauben, der daran gehangen hat. Jene Stelle: „Das Wort ist Fleisch geworden“ ist darum ebenso zu verstehen wie die andere Stelle: „Er ist zum Fluche geworden“, oder wie jene: „Gott hat den Sündlosen zur Sünde gemacht“.
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Der Dichter geht damit auf eine andere Beweisstelle der Eutychianer (Joh. 1, 5) über, von der er allerdings eine etwas sonderbare Erklärung gibt. Er deutet nämlich das Licht auf den göttlichen Logos, die Finsternis aber nicht auf die gottentfremdete Welt, sondern auf die Menschheit Christi. Diese Menschheit wurde durch die mit ihr hypostatisch verbundene Gottheit vor der Sünde bewahrt, welche dem ganzen menschlichen Geschlechte anhaftet. ↩
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Nämlich seinen Leib, welcher nach katholischer Lehre eine wahre menschliche Natur darstellt, während man die Eutychianer im Verdacht hatte, daß sie einen bloßen Scheinleib Christi annähmen. ↩
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Eutyches, welcher nur eine Natur, nämlich die in die Menschheit verwandelte Gottheit lehrte und also konsequenterweise eine von beiden Naturen, entweder die Gottheit oder die Menschheit, leugnen müsse. ↩
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d. h. wäre bei der Inkarnation die Gottheit in der Menschheit aufgegangen und verschwunden. ↩
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Vergl. 1 Kor. 8, 18. ↩
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Matth 1, 18. ↩
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Die Inkarnation fand also nicht durch eine Verwandlung des Logos in die Menschheit statt, sondern dadurch, daß der Logos eine menschliche Natur aus Maria annahm. ↩
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Luk. 1, 35. ↩
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Gal. 3, 13. ↩
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2 Kor. 5, 21. ↩
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Deut. 21, 23. ↩
