2. Hymnus über die Bekehrung des Zachäus.
Text: Cod.add. Mus. Br. 14 591, S.77-79; Bickell, ZDMG. 27 [1873] S.591-593. - Dieses Lied folgt in der Handschrift ohne Angabe eines Verfassers unmittelbar auf das vorige; dass es aber gleichfalls von Cyrillonas herrührt, lässt sich mit Sicherheit aus dem Stil und mehreren in beiden Liedern vorkommenden Ausdrücken schließen. Es besteht aus Strophen von je vier siebensilbigen Versen, welche in der Weise alphabetisch geordnet sind, dass immer eine Reihe Strophen, vier oder sechs, mit demselben Buchstaben beginnen. Da aber nur die Buchstaben Zajin, Chet, Tet, Jod, Kaph und Lamed in dieser Art verwendet sind, so können wir sicher annehmen, dass unser Gedicht nur einen Torso darstellt; der Anfang sowie der eigentliche Hauptteil sind uns verloren gegangen.
Die Überschrift unseres Gedichtes lautet: „Sugitha zu dem Mimra“. Unter Sugitha versteht man eine Abart des Hymnus, einen Bittgesang oder auch ein Loblied, das sich auf irgend einen Heiligen oder auf Gott selbst bezieht. Äußerlich steht es gewöhnlich in Verbindung mit einer Homilie, an deren Schluss sie durch Chöre vorgetragen wurde1 . Das charakteristische Merkmal dieser Lieder ist die dialogische Form. Nach einer kurzen Einleitung, deren Umfang zwischen fünf und zehn Strophen schwankt, beginnt ein Zwiegespräch zweier Personen oder Personengruppen. Jeder Person werden eine oder mehrere Strophen in den Mund gelegt, die ihrerseits wieder akrostichisch geordnet sind, d.h. jede beginnt mit einem anderen Buchstaben des Alphabets. Die S. 22Sugitha stellt also im gewissen Sinn ein kleines Drama dar und erinnert so an die religiösen Spiele des Mittelalters im Abendland. Bei den Syrern scheinen sie sehr beliebt gewesen zu sein; dies beweist der Umstand, dass eine verhältnismäßig große Zahl davon erhalten ist und dass mehrere sogar in das maronitische Brevier Aufnahme gefunden haben2 .
Unser Gedicht ist keine vollständige Sugitha, sondern nur die Einleitung zu einer solchen; die dialogische Partie, die wahrscheinlich die Szene zwischen Jesus und Zachäus zum Vorwurf hatte, ist nicht erhalten. Inhaltlich konnte die Einleitung eben auch losgetrennt und selbständig weiter überliefert werden. Dieselbe schildert die wunderbare Macht, mit der Jesu erbarmende Liebe die Sünder von der Herrschaft des Bösen befreit, an dem Beispiele des Zachäus3 und schließt mit einer praktischen Anwendung. Die Erwähnung der Erlösung durch Christus veranlasst den Dichter zu einem merkwürdigen Exkurs über den Anteil, welcher in einem gewissen Sinne der hl. Jungfrau an derselben zukommt; er lehrt hier unverkennbar die unbefleckte Empfängnis.
[Zajin.] Der Verfluchte hat sein Schwert wider uns angegürtet und zeigt seine Waffe, um uns zu erschrecken; aber sie zerschmilzt wie Wachs an den Leibern, welche sich nicht zur Sünde verleiten lassen.
Der Böse geriet darüber in Aufregung, dass die Scharen der Gerechten zahlreicher waren als sein eigenes Heer, ja dass sich sogar seine Herde gegen ihn auflehnte und ihre Zuflucht zu dem Sohne Mariens nahm.
Zachäus, einer seiner Vornehmsten, war ihm entgangen; [10] denn sein Herr war ihm begegnet und hatte ihn gut aufgenommen. Der Feigenbaum am Wege war ihm ein Hafen der Zuflucht; mühselig stieg er von ihm herab und ward erquickt.
Der Glanz Jesu strahlte vor ihm, als er auf dem Baum am Wege saß, damit auch die Finsternis, welche sich auf dem Aste befand, lichtes Aussehen gewinnen sollte.
S. 23 [Chet.] Eva unterlag, als der böse Rat, der sie zur Fremden machte, bei ihr Eingang fand. Als aber die heilige Maria erschien, [20] brachte diese den ursprünglichen Glanz jener wieder zurück.
Die Schlange mischte heimlich die Sünde mit dem Blute des Todes und reichte der Eva die Mischung; damit aber jene nicht vor dem Tranke zurückschaudere, tränkte sie dieselbe mit der Sündenschuld unter dem Scheine der Freundschaft.
Unser Herr mischte den Wein mit seinem Blute, versetzte ihn mit der Arznei des Lebens und goss ihn ein; die Schuldlose kostete davon, stieg herab und überwand das mörderische Salz des Todes4 .
Im Paradiese heftete sich die Sünde an Eva [30] und trieb sie aus dem Garten, als sie unterlegen war; weil sie der Schlange geneigtes Ohr geliehen hatte, ward sie jenem Garten entfremdet.
Die fußlose Schlange lähmte auch Evas Gang; da diente Maria ihrer Mutter statt des Fußes. Die Jüngere trug die Ältere, auf dass sie in ihrer ursprünglichen Wohnstätte das Leben einatmen.
Eva alterte und ward gekrümmt, da gebar sie Maria und ward wieder verjüngt; denn die Geburt ihrer Tochter übernahm es, [40] die Schuld der Ahnfrau wieder gut zu machen.
[Tet.] Eva hatte dort in unser Gebilde den Sauerteig des Todes und des Jammers verborgen; da erschien Maria und nahm ihn hinweg, damit nicht die ganze Schöpfung verderbt werde.
Gott verbarg seine Fluten in der Jungfrau, das Leben strömte aus von der glorreichen; seine Ströme flossen aufwärts zu den Bergen und erhöhten die Tiefen und Täler über jene.
Die Kunde von dem Sohne stürzte den Bösen, [50] denn die Menschen fielen nieder auf ihr Angesicht und S. 24beteten jenen an; er offenbarte sein Wesen, als man ihn befragte, und die Stoppeln verdorrten, weil sie ihn5 nicht ertragen konnten.
Die Gnadenreiche trug das Heil, ihre Hände legten es in die Krippe; die Völker genossen es und durch seinen Genuss ward der Schlangenbiss geheilt.
[Jod.] Das Meer des Erbarmens durchbrach seine Schranken, um die Unreinheit des Zachäus abzuwaschen, und da die Gnade größer war als die Schuld, [60] so erhob sich der Schuldige, ohne bestraft zu werden.
Jesus, der von seinen Hassern geschlagen wurde, war nicht heftig gegen die Sünder. Es glich sein Erbarmen dem eines Hirten, und so zog er denn aus, das verirrte Schäflein zu suchen6 .
Er schwor bei sich selbst, damit wir ihm glauben möchten, dass er kein Wohlgefallen an unserem Untergange habe7 , sondern dass sich der Vater und seine Engel freuen über einen Sünder, der Buße tut8 .
Er gestattete uns nicht, einen ganzen Tag hindurch [70] Heftigkeit und Zorn in uns bleiben zu lassen, sondern er strebte danach, uns ihm selbst ähnlich zu machen, der den Sündern so viel vergibt9 .
[Kaph.] Der Gerechte sucht uns vom Untergange zu erretten und lehrt die Mittel, durch die er uns helfe. Die Engel in den Himmelshöhen zittern vor ihm, aber siehe, von den Erdbewohnern lässt er sich überwinden!
Wenn Tränen seinem harten und furchtbaren Drohen begegnen, so lässt er sich erweichen; er spannt seinen Bogen, um uns zu erschrecken, [80] doch das Erbarmen legt sich ins Mittel, und der Bogen wird abgespannt.
Als er nun an dem Baum vorüberging, sah er den Schuldigen, fasste ihn ins Auge und blieb stehen; gleichwie S. 25über Petrus, so freute er sich auch über Zachäus, den er vom Feigenbaum herabsteigen ließ.
Der Gerechte befahl dem Sünder, dass er sich traurig vor dem Gerichte stellen solle; doch wie fröhlich ward dessen Antlitz, als er dort den Schuldeinforderer mit Barmherzigkeit beladen antraf!
Je schüchterner Zachäus war, [90] je weniger er wagte um Erbarmen zu bitten, um so herablassender war der Herr, um so bereitwilliger, ihm Barmherzigkeit zu gewähren.
Gerecht und milde ist euer Gott; fürchtet euch, o Sünder, aber fasst auch Zutrauen! Denn den Büßern vergibt er die Schulden, aber von den Hartnäckigen fordert sein Zorn Vergeltung.
[Lamed.] Euch, o Sünder, ruft er durch Zachäus, damit ihr sehen möget, wie gewaltig seine Liebe ist; gleich einem Fischer wirft sie die Netze aus, [100] damit sich der Herr eurer Schar über euch freue.
Er nahm den Büßer vom Feigenbaum hinweg und verpflanzte ihn alsbald in seinen Garten. Er sah, dass jener wie Adam seiner Herrlichkeit entkleidet war; deshalb webte er ihm aus Erbarmen ein Gewand und bekleidete ihn damit.
Preiset den Herrn, denn er hat den Sünder, der verloren war, aufgesucht und sich seiner angenommen; er hat uns einen Weg gebahnt, auf dem wir wandeln sollen, damit er uns die Barmherzigkeit austeile, mit der er beladen ist!
Statt auf den Feigenbaum bin ich in Dein Haus gegangen; [110] möge auch ich gerettet werden durch das Geheimnis, welches ich umfange! Denn größer ist Dein Kreuz als jener Ast: Mögen Deine Erbarmungen sich über mich ergießen!
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Vergl. Sachau, Über die Poesie in der Volkssprache der Nestorianer, Berichte der Berliner Ak. 1896, S.195ff.; Feldmann, Syrische Wechsellieder von Narses, Leipzig 1896. ↩
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VergI. Duval, Lit.Syr. S.16f. ↩
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Lukas 19,1ff ↩
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Hier ist nicht von der hl. Eucharistie die Rede, sondern von einem geheimnisvollen Vorgang, durch welchen der hl. Jungfrau, noch ehe sie ins Dasein trat, Bewahrung vor der Erbsünde und vollkommene Heiligkeit durch die Kraft des Blutes Christi nach göttlichem Ratschluss gesichert wurde. Dieser Sinn ergibt sich mit Notwendigkeit aus dem Zusammenhang. ↩
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d.h. seine Gottheit, die von den syrischen Dichtern häufig unter dem Bilde des Feuers dargestellt wird. ↩
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Matthäus 18,12ff.; Lukas 15,3ff. ↩
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Ezechiel 33,11. ↩
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Lukas 15,7.10. ↩
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Matthäus 6,12ff. u.a. ↩
