d) Predigten
Den unsichersten Bestandteil des fulgentianischen Schrifttums bilden die Predigten. Nach dem Zeugnis des Biographen hat Fulgentius eine sehr große Anzahl von Predigten (plurimos sermones) zur Niederschrift diktiert; demnach hat er selbst eine Sammlung seiner Predigten veranstaltet.
Die äußere Beglaubigung für die Autorschaft des Bischofs von Ruspe ist bei den Predigten sehr mangelhaft; wir sind fast ganz auf innere Kriterien angewiesen. Insgesamt sind uns 86 bzw. 90 Predigten unter seinem Namen überliefert. Sie sind alle mit einer Ausnahme in der Patrologie von Migne im 65. Band nachgedruckt, und zwar an drei verschiedenen Stellen. Auf Seite 719—750 stehen zehn Predigten, die dem Herausgeber von 1684 von Anfang an vorlagen; auf Seite 833—842 „duo sermones hactenus inediti„, die ihm erst während der Herausgabe zugingen und darum an einer späteren Stelle veröffentlicht wurden; und schließlich auf Seite 855—954 im Appendix ein Corpus von insgesamt 80 Predigten. Diese Zahl ist allerdings nicht vollständig; denn die 28. Predigt dieser Sammlung ist identisch mit der 7. der ersten „de latrone crucifixo“, die 72. mit der 6. „de s, Cypriano„, die 73. mit der 9. „de s. Vincentio“; außerdem fehlt der Text der 30., 31., 32. und 33. Predigt. Dazu kommt noch eine Predigt "De Epiphania Domini„, die uns in mehreren Handschriften, darunter zwei vatikanischen und einer von Monte Cassino, aufbewahrt und im Jahre 1852 von Kardinal Angelo Mai,1 der sich selbst über die Autorschaft des Fulgentius nicht ausgesprochen hat, veröffentlicht worden ist.
Von all diesen Predigten hält Lapeyre2 nur acht, Bardenhewer 3 neun für echt. Nach Ansicht Lapeyres sind S. 28 dies zunächst die sechs bei Migne an erster Stelle nachgedruckten Predigten:
1. De dispensatoribus Domini, eine Predigt über den guten Verwalter im Anschluß an Luk. 12, 42 ff.;
2. De duplici nativitate Christi, una aeterna ex Patre, altera temporali ex Virgine;
3. De saneto Stephano protomartyre et conversione saneti Pauli;
4. De Epiphania deque Innocentium nece et muneribus Magorum;
5. De caritate Dei ac proximi.
6. De saneto Cypriano martyre.
Dazu kommen nach Lapeyres Ansicht noch die beiden Predigten: „De circumeisione Domini“, eine der dem Herausgeber von 1684 nachträglich zugeleiteten Predigten, und die von Kardinal Angelo Mai edierte Predigt: De Epiphania Domini. Die vier übrigen Predigten der ersten Gruppe lehnt Lapeyre aus äußeren Gründen ab, da sie in den Handschriften bald Fulgentius, bald Augustinus, Hieronymus oder irgendeinem anderen Kirchenvater zugeschrieben werden. Bardenhewer betrachtet auch die siebente Predigt dieser Gruppe: De latrone crueifixo cum Christo als fulgentianisch.
Die vorliegende Übersetzung hat aus den unter dem Namen des hl. Fulgentius überlieferten Predigten diejenigen ausgewählt, die ihm auf Grund äußerer Zeugnisse mit Bestimmtheit zugeschrieben werden. Es sind dies die oben angeführten sechs Predigten der ersten Sammlung. Dabei muß jedoch bemerkt werden, daß uns die Autorschaft des Bischofs von Ruspe für die sechste Predigt aus inneren Gründen mindestens als zweifelhaft erscheint. Durch die Dürftigkeit des dogmatischen Inhaltes, den Mangel einer straffen Gedankenführung, die bei Fulgentius sonst ungewohnte Breite der allegorischen Auslegung, vor allem aber die Unbestimmtheit der Antithesen fällt diese Predigt gegenüber den anderen wesentlich ab. Aufgenommen wurde in die Übersetzung ferner die von Kardinal Mai herausgegebene Predigt auf das Epiphaniefest. Sie weist in wesentlichen Einzelheiten mit der vierten Predigt über das gleiche Thema so auffällige S. 29 Berührungen auf, daß sie u. E. unbedenklich als fulgentianisch ausgegeben werden darf.
Ausgeschlossen wurden jedoch die beiden „sermones adhuc inediti„. Im Gegensatz zu Lapeyre hält der Übersetzer die erste dieser Predigten „In circumeisione Domini“ für unecht. Außer den oben bereits für die Predigt auf den hl. Cyprian angeführten Gründen, die sich auch auf diese Predigt anwenden lassen, ist besonders beachtenswert, daß im achten Kapitel in den Ausführungen über die Trinität eine Terminologie und einzelne Spekulationen erscheinen, die sonst bei Fulgentius nicht gebräuchlich sind. Wenn aber diese Predigt unecht ist, dann auch die folgende auf das Fest Maria Reinigung. Ganz abgesehen von der Streitfrage, ob dieses Fest bereits zur Zeit des hl. Fulgentius gefeiert wurde oder nicht, ist die Autorenfrage schon durch den Nachweis der Unechtheit der Predigt: „In circumeisione Domini„ entschieden. Die beiden Predigten müssen nämlich von einem Verfasser stammen, wie das achte Kapitel der Predigt auf die Beschneidung Christi zeigt, in dem längere Darlegungen aus dem sechsten Kapitel der vorhergehenden Predigt fast wörtlich wiederholt sind. Bemerkenswert ist ferner, daß die zweite Predigt unvollständig überliefert ist; an das Schriftwort: „Nunc dimittis servum tuum, Domine, seeundum verbum tuum in pace“ hat sich sicher noch eine Erklärung angeschlossen, während der überlieferte Text mit diesem Wort schließt.
Das dritte Corpus fulgentianischer Predigten mit 80, genauer gesagt 73 Predigten, verdanken wir dem Jesuiten Theophile Raynaud. Er veröffentlichte die von ihm entdeckten, dem hl, Fulgentius zugeschriebenen Predigten in seiner „Heptas Praesulum„.4 Im Jahre 1903 hat Dom Morin in der Bibliothek von Saint-Mihiel ein Manuskript mit diesen achtzig Predigten gefunden und festgestellt, daß der von Raynaud veröffentlichte Text mangelhaft ist; die Handschrift von St. Mihiel enthält auch die vier Predigten, die in dem Manuskript fehlen, das Raynaud vorlag.5 Über die Verfasser dieser Predigten können wir vorläufig keine Gewißheit erlangen; die Handschrift von S. 30 St. Mihiel spricht nur von den sermones „doctoris cuiusdam“; manche von ihnen finden sich auch unter den Predigten von Augustinus; aber auch Eusebius, Hieronymus, Cäsarius von Arles, Eusebius von Emesa werden in andern Codices als ihre Verfasser angegeben. Sehr viel hat die Ansicht für sich, daß es sich hier um eine Sammlung afrikanischer Predigten handelt, die vielleicht für den Gebrauch der Geistlichen zusammengestellt war. Einige wenige Predigten stammen wahrscheinlich von Fulgentius, andere von Augustinus, Cäsarius von Arles, vielleicht auch von Petrus Chrysologus, die meisten von unbekannten Autoren. In die vorliegende Übersetzung wurde keine dieser Predigten aufgenommen, da die Klärung der Autorenfrage über den Rahmen der gesteckten Aufgabe hinausginge.
