III. Die Schrift De gubernatione
Dei Salvian lebte in einer Zeit schwerster, unüberbrückbarer Gegensätze. Das absterbende Römerreich lag im Kampfe mit dem aufstrebenden Germanentum; das Heidentum rang noch mit letzter Kraft gegen das aufstrebende Christentum; innerhalb des Christentums hatten sich schon Streitigkeiten erhoben: gerade Südgallien, Lerinum und Massilia' waren Hauptpflanzstätten des Semipeligianismus geworden, der die Notwendigkeit der göttlichen Gnade leugnete. Mit allergrösster Wahrscheinlichkeit war auch unser Salvian Semipelagianer, obwohl aus seinen Schriften nichts darüber zu ersehen S. 19 ist. Bei den christlichen Laien herrschte ein tief klaffender Zwiespalt zwischen Lehre und Kultus einerseits und sittlichem Leben anderseits. Die Kämpfe mit den immer mehr vordringenden Germanen brachten dem römischen Gallien Unheil über Unheil. Trier wurde viermal gebrandschatzt, geplündert, ganz oder teilweise zerstört; Mainz und Köln wurden eingenommen; die Vandalen brachen in Gallien ein, zogen von da nach Spanien und setzten nach Afrika über (429). Die Kämpfe der gallischen Bauern, der Bagauden, flammten wieder auf; und all dem mußte der römische Staat fast untätig zusehen; und soweit er sich wehrte, erlitt er Niederlagen: so Castinus 422 durch die Vandalen, Litorius 438 vor Tolosa durch die Goten. Not und Elend herrschte überall. Da wurde der Glaube an. die göttliche Vorsehung und göttliche Gerechtigkeit bei den vielen, oft ohnehin nur äußerlich christlich gewordenen Römern ganz und gar erschüttert, und Murren und Schelten gegen Gott erhob sich allenthalben. Demgegenüber verteidigt nun Salvian die göttliche Vorsehung, die göttliche Weltregierung, in seinem größten uns erhaltenen Werk, das Gennadius "De praesenti iudicio" nennt, und das uns unter dem Titel "De gubernatione Dei" überliefert ist. Er sucht darin die Tatsache der göttlichen Weltregierung zu erweisen durch Vernunftgründe, durch Beispiele und durch Zeugnisse aus der Heiligen Schrift. Er geißelt aufs heftigste die Sünden und Laster der damaligen Römerwelt, die allein an allem Unglück schuld seien: Sola nos morum nostrorum vitia vicerunt (Gub. VII 108). Den sittenreinen Germanen dagegen verleihe Gott mit Recht den Sieg, während er die sittenlosen Römer in ebensolcher Gerechtigkeit unterliegen lasse. Salvian ist sich selbst bewußt, daß diese seine günstige Beurteilung der Germanen und die schonungslose Aufdeckung der Römerlaster, die er mit den Flammenpfeilen seiner Worte trifft, bei vielen Anstoß erregen werde: Scio, quia intolerabilia quibusdam videntur ista, quae dieimus (Gub. VII 101). Aber er will der Wahrheit dienen; er ist der Überzeugung, daß er die Barbaren so zeichnen muß, wie er sie sieht, vor allem sittenrein und von natürlicher Nächstenliebe erfüllt, so daß viele römische Untertanen S. 20 vor den Bedrückungen der Steuereinnehmer zu ihnen fliehen. Er betrachtet die Germanen hauptsächlich vom ethischen Standpunkt aus und stellt ihre Tugenden in rhetorischen Gegensatz zu den Römerlastern. „Die Virtus christiana mit all den Einflüssen von kynisch-stoischer Philosophie und sozial- und verwaltungspolitischem Verständnis hat Salvian das Auge geöffnet und geschärft" für die Vorzüge der Barbaren vor den Römern. 1Er kennt aber auch die Fehler der Germanen und verhehlt sie seinen Lesern nicht (Gub. VI und IV . Mit dieser seiner objektiven Germanenbeurteilung stellt sich Salvian in lebhaftesten Gegensatz zu seinen gleich gebildeten Zeitgenossen, die die Germanen noch als Germanen aufs tiefste verachteten. So schreibt Prudentius: „Zwar wandelt der Sarmate, der Vandale, der Hunne, der Alemanne, Sachse ... auf ein und demselben Boden wie wir, der gleiche Himmel wölbt sich über uns allen; aber auch das Vieh trinkt aus derselben Quelle wie wir; derselbe Tau feuchtet meine Saat und das Futter des Esels; das unflätige Schwein badet in demselben Fluß wie wir. Aber so hoch der auf zwei Füßen Wandelnde über dem Vierfüßigen oder der Redende über dem Stummen, so hoch der Anhänger der wahren Religion über dem steht, der törichten Künsten und... einem Irrwahn folgt, so hoch steht der Römer über dem Barbaren." 2Und Sidonius Apollinaris sagt: "Barbaros vitas, quia mali putentur; ego, etiamsi boni." Salvian dagegen ist sogar der Ansicht, daß die Germanen - soweit sie Christen waren, bekannten sie sich zum Ananismus - ohne ihre Schuld Häretiker seien, nur durch die „pravitas" der römischen Behörden. Wahrscheinlich meint er damit die 341 unter dem arianisierenden Kaiser Konstantius erfolgte Entsendung des Arianers Wulfila als Missionsbischof der Goten.
Trotz dieser selbständigen, starken Hinneigung zu den Germanen, den Barbaren, fühlt Salvian sich als Römer. Mit Schmerz und Scham spricht er von dem bevorstehenden Untergang des Römerreiches, den er klar voraus- S. 21 sieht. Er fühlt sich verbunden mit Volk und Staat und lebt ganz "in den Auffassungen antik-römischer Welt" (Schaefer a. a. O. S. 71). Das zeigt besonders seine Stellung zur Sklaverei, die er als selbstverständlich ansieht. Er nimmt auch, soweit es ihm möglich erscheint, manche Römer von den Vorwürfen der Schlechtigkeit aus. Aber er hat eben allmählich - wohl mit Schmerzen - eingesehen, daß es für das Römerreich keine Rettung mehr gibt. Er hat als Römer resigniert. Gub. IV 30 spricht er von der "Romana res publica vel iam mortua vel certe extremum spiritum agens".
In Anbetracht der überaus starken, drastischen Schilderung römischer Sittenlosigkeit bei Salvian erhebt sich nun die Frage nach der Glaubwürdigkeit dieses Schriftstellers. Alle Salvianforscher haben sich diese gestellt, und alle haben sie, wenigstens in bezug auf die Gubernatio, dahin beantwortet, daß Salvian als Geschichtsquelle unbedingt zuverlässig ist. Er schreibt ja nicht mit der Absicht, ein Geschichtswerk zu liefern, sondern läßt seine kulturgeschichtlichen Schilderungen nur gelegentlich einfließen. Er schreibt auch nicht, um sich irgendjemands Gunst zu erwerben, wie die meisten seiner Zeitgenossen. Über alles, worüber er schreibt, kann er ein sicheres Wissen haben, denn er schildert ja alles als Zeitgenosse, zum Teil als Augenzeuge. Freilich müssen wir in Betracht ziehen, daß Salvian oft auch um des rhetorischen Gegensatzes willen diesen und jenen Zug verstärkt, daß er sich öfter nur der Kontrastwirkung wegen in Superlativen bewegt. Aber im ganzen genommen ist an seiner subjektiven Ehrlichkeit nicht im geringsten zu zweifeln. Klostermann 3nennt ihn daher eine „kulturgeschichtliche Quelle ersten Ranges", und Ernst Stein 4sagt von der Gubernatio, sie sei "die aufschlußreichste Quelle für die inneren Zustände des weströmischen Staates, die einzige, die uns den ganzen Jammer der Zeit unmittelbar in seiner grausigen Wirklichkeit sehen läßt". Im Übrigen stimmen auch Zeitgenossen in der Schil- S. 22 derung des Sittenverfalls im Römerreich mit Salvian durchaus überein. Der Rhetor Cl. Marius Victor, ein älterer Zeitgenosse Salvians, sagt. „Nichts hat der Feind, nichts die Schreckliche Hungersnot, nichts endlich die Pest bewirkt, wir sind geblieben, wie wir waren; und obwohl mit solchen Leiden geschlagen werden wir doch niemals gebessert." Paulinus von Nola erzählt als 83-jähriger Greis in seinem Carmen Euchar., daß ihm als jungem Mann von vielen freien Frauen Anerbietungen zu sexuellem Umgang gemacht worden seien, er sie aber nicht angenommen, sondern sich mit den Sklavinnen seines elterlichen Hauses begnügt habe, die sich ihm freiwillig hingaben. Er gibt auch ein Bild von dem Luxus, der bei den römischen Großen herrschte. Hieronymus spricht Ep. XXII 13 ad Eustochium davon, daß viele Frauen bei Abtreibungen selbst ums Leben kamen. Sidonius preist den Tag glücklich, an welchem nicht über die Steuerbewirtschaftung geklagt und niemand denunziert würde. - Auch die römische Gesetzgebung aus jener Zeit zeigt uns, wie unerträglich der Steuerdruck und die skrupellose Habsucht der Vornehmen auf den mittleren und kleinen Bauern lastete. Salvian hat also in seinen Schilderungen kaum übertrieben.Als Abfassungszeit der Gubernatio nahm man früher die Jahre zwischen 438 und 451 oder 455 an. A. Hämmerle (a.a. O.I 14 f.] ist es nun gelungen, glaubhaft darzutun, daß das Werk nicht später als 440 vollendet und wohl nur wenige Jahre vorher, etwa 438, begonnen wurde. Es ist nämlich kein über das Jahr 439 hinaus liegendes Ereignis erwähnt - und deren wären genug gewesen die Salvian für seine Zwecke wohl hätte verwerten können und die Niederlage des Litorius bei Tolosa wird von Salvian ausdrücklich (Gub. VII 39) als ein Ereignis des „bellum proximum“ bezeichnet. Der terminus post quem 438 ist durch die Entstehungszeit des älteren, kleineren Werkes Salvians, Ad Ecclesiam, gegeben, auf das wir später zurückkommen werden. Die neueren Forscher haben sich auch alle dieser Meinung Hämmerles angeschlossen, nur U. Moricca 5glaubt S. 23 weisen zu können, allerdings nicht mit zwingenden Gründen, daß die Gubernatio nicht vor 461 entstanden ist.
Eine Frage, mit der der Salvianforscher sich auch auseinandersetzen muß, ist die Bücherfrage in der Gubernatio. Gennadius berichtet, er habe fünf Bücher „De praesenti iudicio" gelesen, überliefert sind uns aber in allen Handschriften acht. Man hat sich früher diesen Widerspruch zu erklären gesucht mit der Annahme einer allmählichen Entstehung des Werkes. Hämmerle (I 16) möchte dagegen doch eine ursprüngliche Einteilung in fünf Bücher annehmen und deswegen von Buch 3-8 je zwei zu einem Buch zusammenfassen. Die meisten anderen Gelehrten dagegen erkennen die Einteilung in acht Bücher als ursprünglich an. Dr. Karla Richter 6hat nun 1929 in einer längeren Abhandlung mit inneren Gründen nachgewiesen, daß diese Einteilung ursprünglich ist. Es bleibt daher entweder nur die Möglichkeit, daß Gennadius tatsächlich nur fünf Bücher gelesen hat - er sagt ja, ex quibus legi - oder daß die Gennadiusstelle korrupt ist. K. Richter führt auch ein Beispiel dafür an, daß Gennadius nicht immer alle Schriften der von ihm behandelten Schriftsteller gelesen hat; von Paulinus von Nola sagt der Literarhistoriker, er habe "tractatus de initio Quadragesimae" geschrieben, ex quibus duos legi". Doch auch eine Textverderbnis liegt nahe, weil vorher je ein Werk mit drei und mit vier Büchern aufgezählt wird.
Mit der Bücherfrage hängt die Frage der Vollständigkeit des achten Buches eng zusammen. Jeder unbefangene Leser gewinnt den Eindruck, daß das achte Buch mitten im Vergleich der Afrikaner mit den Vandalen abbricht. Ob diese Unvollständigkeit ursprünglich oder auf eine mangelhafte Überlieferung zurückzuführen ist, läßt sich auf textkritischem Wege nicht ermitteln, weil die älteste Handschrift von diesem Werk Salvians, der Codex Parisinus, erst dem 10. Jahrhundert entstammt, die übrigen sogar dem 13. bzw. 15. Jahrhundert. Es liegt aber doch nahe, daß die Überlieferung mangelhaft ist und Salvian nicht, wie Hämmerle als der einzige bedeutende Salvianforscher meint, das Werk selbst so S. 24 plötzlich abgebrochen hat, weil die Zeit der Not um 440 kurz unterbrochen worden sei durch die Niederschlagung des Bagaudenaufstandes, den Sieg über die Burgunder und den Friedensschluss mit den Goten.
Salvians „Gubernatio" ist öfter mit einer, nur um ein Geringes älteren Schrift verglichen worden mit Augustinus Werk über den Gottesstaat. Beide sind ähnlichen Anlässen entsprungen: „De civitate Dei wurde verfaßt weil die Heiden nach der Einnahme Roms durch Alanen den Christen, die den Zorn der Götter herabgerufen hatten, alle Schuld an ihrem Unglück beimaßen. Augustin verteidigt das Christentum gegen diesen Vorwurf und sucht das Walten Gottes im Verlauf der ganzen Weltgeschichte zu ergründen. Ähnlich ist auch, wie wir gesehen haben, der Anlaß zur „Gubernatio", ähnlich sind ihre apologetischen Tendenzen. Zwar reicht Salvians Blick nicht so weit wie der Augustins, er beschränkt sich auf die für ihn gegenwärtigen geschichtlichen Ereignisse, aber er betrachtet sie als ein „Stück des alle Zeiten beherrschenden Weltgerichtes" (Schaefer a. a. 0. S. 46).
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A. Schafer, Römer und Germanen bei Salvian. Breslau 1930, S. 103 ↩
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Prudentius, Contra Symmachum lib. II, v. 808ff. ↩
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In Teuffel-Schwabes Gesch. d. röm. Lit. III. 6. Aufl. ↩
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Ernst Stein, Geschichte des spätrömischen Reiches I 1928, S.511. ↩
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U. Morica, Salviano e la data „De gubernatione Dei“, in. Rivista filologica class. 46 (1918) ↩
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Karla Richter, Die Bücherfrage bei Salvian, in: Opusc. philol. 4 (1929). ↩
