6.
Ob unser Philosoph 1 zu einer bestimmten Schule auch nur hinneigte, mag als müßige Frage erscheinen. Gegenüber der starken Betonung des stoischen 2 Einschlags in K. I durch Geffcken 3 darf aber vielleicht auf einige peripatetische Besonderheiten hingewiesen werden. Nach Aristoteles 4 ist das Staunen 5 beim Anblick des Weltalls (I 1) der Anfang aller Philosophie. Gott, der Urbeweger des Himmelskosmos (I 2), ist ein Lieblingsargument des Stagiriten 6. Schlechthin aristotelisch ist aber die von A überlieferte Definition Gottes als der absoluten „Form“ 7 (I 4), die schon von den Mechitaristen auf ein αὐτογενὲς εἶδος zurückgeführt wurde. Für die Anfangslosigkeit und Endlosigkeit Gottes [ebd.] muß auch Geffcken 8 auf Aristoteles 9 verweisen. So S. 18 ließe sich fast jede Wendung in der Gotteslehre des Aristides 10 aus peripatetischen Schriften belegen; hier nur noch ein Wort zu seiner Anthropologie (VII 1). Nach Aristoteles 11 setzt sich der menschliche wie animalische Körper überhaupt aus den vier Grundstoffen zusammen; er steht als „Kleinwelt“ μικρὸς κόσμος dem Weltall gegenüber. Des Aristides Psychologie (ebd., vgl. XII 6) ist in aristotelischer 12 Beleuchtung ohne weiteres klar; nur schreibt. der Bibelkenner πνεῦμα für νοῦς. Endlich mag zu „Mischung“ (XVI 4) noch daran erinnert werden, daß die κράσις in der Anthropologie der späteren Peripatetiker eine Hauptrolle spielt 13.
Doch genug davon! Mag Aristides Stoiker 14 oder Peripatetiker, Akademiker oder Eklektiker gewesen sein, oder mag er gar, wie Geffcken 15 will, „weder einen Dichter, noch einen wirklichen Philosophen, sondern nur sein popular-philosophisches Handbuch gekannt“ haben, jedenfalls bildet sein philosophisch-theologisches Sprachgut nur die auf seine Leser berechnete Einkleidung christlicher Gedanken. Unser Athener rühmt sich auch nirgends seiner Belesenheit in den philosophischen und andern Klassikern Allgriechenlands, hebt dagegen wiederholt sein Studium des christlichen Schrifttums hervor, dessen Lektüre er selbst dem Kaiser angelegentlich empfiehlt 16. Er meint damit S. 19 offenbar zunächst die Evangelien nebst den übrigen apostolischen und unmittelbar nachapostolischen Schriften, dann aber auch die Septuaginta-Sammlung, die ja bereits zur Christenbibel geworden war. Diese Annahme stützt sich auf die zahlreichen Reminiszenzen und Anklänge an biblische und verwandte Literatur Alten wie Neuen Testaments, mögen auch förmliche Zitate nicht vorliegen. Es ist neuerdings nachdrücklich betont worden 17, daß die christliche Apologetik „eine Tochter der jüdischen“ sei. In der Tat lag Israel Jahrhunderte lang in heiliger Fehde mit dem orientalischen und dann auch dem hellenistischen Heidentum, wobei die Juden es verstanden, die von gewissen griechischen Philosophen gegen den volkstümlichen Köhlerglauben geschmiedeten Waffen geschickt zu handhaben. Kein Wunder also, wenn sich auch bei Aristides Anspielungen auf solche und andere Abschnitte der griechischen 18 Bibel finden, Es sollen hier nicht alle unten 19 angemerkten Stellen zusammengetragen, sondern nur jene Schriften namhaft gemacht werden, deren Benutzung durch die Deutlichkeit oder Häufigkeit der Anspielungen wahrscheinlich gemacht wird. Was zunächst die Polemik wider das Heidentum betrifft, so mögen folgende alttestamentliche Bücher in Frage kommen: Is. 44, 9 ff. (III 2. XIII 1). 13 (IV 1). 18 f. (VII 4 G); Jer.10, 3 ff. 14 (XIII 1); Bar. 6 (= Ep. Jer.), 15. 18. 34 ff. 49. 54 f. 57 f. 64 (III 2); Ps. 113, 12 ff. (= 115, 4 ff.). 134, 15 ff. (III 2). Weish. 13, 2 (IV 1).3.5.10 (III 2). 11. 13 (X III 1). 15f. 18f. (III 2). 14,8 (III 2). 15 ff.. (VII 1). 17. 20 (XIII 3). 21 (III 2). 22 f. (VIII 5). 27 (III 2). 29 (XIII 1). 15, 5. 17 (III 2). 18 (XII 1); vgl. auch die jüdische Sibylle: (III) Proöm.66 (XII 7). III 32 f. (III 2). 723 (VII 1 S). S. 20 IV 34. 38 f. (XVII 2). Zu Aristides’ Gotteslehre vgl. wiederum Weish. 13, 4 (I 2). 5 (II) und Sibyll. (III) Proöm.7 (I 4). 8 f. (XIII 7). 17 (14) 20. III 12 (I 4. XIII 7). 17 (XIII 3). Fragm. I 17 (I 4); ferner II Makk. 7, 28 (I 1. IV 1 G). 14, 35 (I 4). Anklänge an dieselben Bücher finden sich nicht nur in Aristides’ Darstellung der jüdischen, sondern auch der christlichen Tugendhaftigkeit: Is. 1, 13 (XIV 4). 37, 16 (XIV 2).58, 6 f. (XIV 3); Weish. 12, 19 (XIV 3), bezw. Is. 1, 17 (XV 4.7). 58, 7 (XV 7). Sibyll. IV 25 f. (XV 10). 33 (XV 6). Ähnlich an Sir. 4, 1 ff. 38, 16 (XIV 3). Tob. 1,17 f. 2,7. 4,7. 12,8 f. 12 (XIV 3), bezw. Sir. 32 (35), 7. Tob. 4,7.16 (XV 7). 15 (XV 5). Wenn überhaupt welche, so scheint Aristides die vorstehenden Schriften jüdischen Ursprungs gelesen zu haben. Ob er dagegen die Werke des nur etwas mehr als ein Jahrhundert vor ihm lebenden alexandrinischen Eklektikers Philon, dieses Hauptvertreters der systematischen jüdischen Apologetik, kannte, scheint mir trotz den vielen von Geffcken angemerkten Stellen recht zweifelhaft.
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Man darf diesen Titel für die damalige Zeit nicht so hoch einschätzen; vgl. Geffcken, a. a. 0., S. 32. ↩
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„Gottes Vorsehung“ (I 1) ist auch frühchristlicher Ausdruck (vgl. 1 Klem. 24, 5. Herm., Vis. I 3, 4) und zudem altgriechisches Sprachgut, findet er sich doch, um von den Tragikern zu schweigen, schon bei Herodot III 108. - Auch διακόσμησις „Weltenbau“ (ebd.) ist mindestens ebenso gut platonisch (vgl. Tim. 24 C) und aristotelisch (vgl. Metaph. I 5, 986 a, Polit. III 13, 1476 a) wie stoisch. Ja der damalige Hauptvertreter der Stoa, Epiktet, zu Nikopolis in Epirus gebraucht dafür lieber διοίσμησις (Diatr. III 11, 1. IV 1, 100 u. ö.). ↩
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A. a. 0., S. 33 ff.; meistens erscheint freilich „der stoisierende Philon“ (S. 35) als Kronzeuge. Vgl. übrigens schon Seeberg, Die Apologie des Aristides, S. 281. ↩
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Metaph. I 2, 982 bsq. ↩
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Nach Epiktet (Ench. 33, 10) dagegen ist dieser Affekt, wie andere, verpönt. ↩
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Vgl. nur Phys. VIII 6. 259 a. Metaph. XII 7. 8, 1072 a resp. 1073 a. De caelo I 9, 279 a. ↩
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Vgl. besonders Metaph. XII 8, 1704 a und dazu E. Zeller, Die Philosophie der Griechen 3. Aufl. (Lpz. 1879), II 2, S. 365. 374. ↩
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A. a. 0., S. 38. ↩
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De caelo I 10-12, 279 b. ↩
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Zur dunklen Stelle XIII 6 mag noch Aristoteles, Metaph. XII 1, 1069 a εἰς νίαν φύσιν τιθέντες verglichen werden. ↩
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Phys. VII 2, 252 b. u. ö. ↩
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Allenfalls auch in platonischer, nicht aber in stoischer. ↩
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Der Kürze halber sei nur auf die übersichtliche Darstellung in A. Dörings Geschichte der griech. Philosophie II (Lpz. 1908), S. 419 ff. verwiesen. - Mehr von der ethischen Veranlagung gebraucht κεκρᾶσθαι Platon: Phaidros 279 A, κεκραμένος ebenderselbe: Ges. XI 930 A und Plutarch: Numa 3. - Vom pantheistischen Standpunkt aus läßt Arrian einmal auch Epiktet (Diatr. II 23, 3) sagen, daß Gott den Menschen „einen Geist einmischte“. ↩
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Dies ist allerdings am unwahrscheinlichsten; denn abgesehen von der strengen Sittenlehre trennte den überzeugten Stoiker vom Christentum eine ganze Welt. ↩
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A. a. 0., S. 78; vgl. S. XXXIX f. ↩
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II 7. XV 1. XVI 3. 5. ↩
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Von Geffcken, a, a. 0., S. IX, XII ff.; vgl. P. Wendland, Die hellenistisch-römische Kultur in ihren Beziehungen zu Judentum und Christentum (Tübingen 1907), S. 150 f. = Die urchristlichen Literaturformen (Tübingen 1912), S. 391 f. ↩
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Der aufmerksame Leser nehme sich also die Mühe, überall die griechischen Texte zu vergleichen. ↩
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Dort wurde wegen des Interesses, das solche Anklänge in unserer ältesten Apologie beanspruchen dürfen, möglichste Vollständigkeit angestrebt. ↩
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Dazu vgl. auch die christliche Sibylle: VIII 429. Diese scheint VIII 390 die Quelle für Aristides I 6 G zu sein. ↩
