1.
S. 10 Wie der Chor seinen Meister, die Schiffsmannschaft ihren Steuermann, nicht minder wünscht auch diese Priesterschaar heute ihren gemeinsamen Vater, ihren Bischof bei sich zu sehen. Während aber ein Chor und ein Schiff durch die Abwesenheit seines Oberhauptes an Sicherheit und Ordnung oft nicht wenig verliert, ist Das bei uns ganz anders. Denn unser Bischof ist, wenn auch nicht dem Leibe nach, doch im Geiste bei uns gegenwärtig; er ist in dieser Stunde hier in unserer Mitte, ob er gleich zu Hause bleiben muß, so wie auch wir bei ihm sind, ob wir gleich hier stehen. Das bewirkt die Macht der Liebe. Ihr ist es eigen, die Liebenden zusammenzuführen, zu vereinigen, auch wenn diese durch weite Entfernung von einander getrennt bleiben. Denn wenn einer von unsern Lieben in einem fernen Lande weilt und durch das weite Meer von uns geschieden ist, dann sehen wir ihn trotzdem alle Tage mit den Augen des Geistes; und umgekehrt, wenn ein Mensch, der uns zuwider ist, ganz nahe bei uns steht, sehen wir ihn nicht, — so scheint es wenigstens oft. Die räumliche Entfernung kann also nicht schaden, wenn nur die Liebe nicht fehlt; im andern Falle kann aber auch die räumliche Nähe Nichts helfen. Als wir gestern den heiligen Paulus priesen, da habt ihr euch dermaßen gefreut, als hättet ihr ihn hier in unserer Versammlung gesehen; und doch ruht sein Leib in der Kaiserstadt Rom und seine Seele in den Händen Gottes; denn „die Seelen der Gerechten sind in der Hand des Herrn, und die Qual berührt sie nicht.“1 Gleich S. 11 wohl hat die Macht der Liebe ihn vor eure Augen gestellt. Ich hatte nun zwar vor, auch heute wieder denselben Gegenstand [Lob des heiligen Paulus]2 zu behandeln; allein ich finde es dringend nothwendig, daß ich eilends zu einem andern übergehe, daß ich nämlich über die Sünden rede, die heute von der ganzen Stadt begangen worden. Denn wer das Lob des heiligen Paulus hören will, der muß zuvor Nacheiferer seiner Tugenden und muß solcher Predigten werth sein. — Da nun unser Vater nicht anwesend ist, wohlan, so will ich auf sein Gebet vertrauen und in diesem Vertrauen die Unterweisung beginnen. Wie er für uns betet, so hat einst Moses während einer Schlacht betend die Arme ausgestreckt und eben dadurch den Seinigen Hilfe geleistet und den Feinden Schrecken eingejagt. Durch sein Gebet hat er nicht weniger, ja noch mehr als die kämpfenden Krieger [durch ihre Tapferkeit] zur Entscheidung der Schlacht beigetragen, obgleich er nicht bei ihnen war dem Leibe nach. Wie nämlich die Macht der Liebe, so wird auch die Wirksamkeit des Gebetes durch räumliche Entfernung nicht gehemmt, und wie die Liebe die Getrennten vereinigt, so vermag auch das Gebet aus der Ferne sehr großen Nutzen zu stiften. Gehen wir daher muthig in den Kampf! Denn auch bei uns wüthet ein Krieg. Es sind nicht die Amalekiter, wie in jener Zeit, die einen Angriff unternommen, es sind überhaupt keine Barbaren, die uns überfallen haben, — Teufel sind es, die auf dem Markte ihren Aufzug halten. Denn diese nächtlichen Teufelsfeste, diese Schande und Lästerreden, diese nächtlichen Tänze, diese ganze lächerliche Komödie, das sind die Feinde, die unsere Stadt belagert S. 12 und besetzt halten, und sie sind schlimmer als irgend ein anderer Feind. Deßwegen wäre es geboten, sich zu demüthigen, sich zu betrüben, sich zu schämen; und Das müßten sowohl die Schuldigen selbst —nämlich wegen ihrer Sünden, als auch die Unschuldigen — nämlich wegen der Schamlosigkeit, die sie heute an ihren Brüdern sehen. Aber in Wirklichkeit ist es anders: unsere Stadt ist ganz ausnehmend fröhlich, ist herrlich geschmückt und bekränzt, und der Marktplatz hat sich heute prunkvoll geziert wie ein putzsüchtiges, verschwenderisches Weib, ist mit goldenem Geschmeide behangen, mit kostbaren Kleidern und Schuhen und andern dergleichen Sachen ausgestattet, und unter den Handwerkern und Künstlern sucht jeder Einzelne durch Schaustellung seiner Arbeiten die Genossen zu überflügeln. Doch ist dieser Wetteifer, wenn er auch von einem kindischen Unverstand einer niedrigen, kleinlich denkenden Seele zeugt, gleichwohl ohne allzu schlimme Folgen; es sind eben nur unnütze Bemühungen, die Nichts als Spott und Gelächter einbringen. Denn wenn du schmücken willst, dann schmücke nicht deinen Laden, sondern deine Seele, nicht den Markt, sondern das Herz, damit die Engel dich bewundern die Erzengel deine Bemühungen mit Wohlgefallen betrachten und der Herr der Engel dir mit seinen Gütern und Gnaden vergelte. Diese Schaustellung aber, deren man sich jetzt befleissigt, bewirkt nur, daß man von den Einen verlacht, von den Andern beneidet wird: verlacht von Denen, die auf Höheres denken, heftig beneidet von Denen, die an derselben Schwachheit leiden.
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Weish. 3, 1. ↩
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Das Lob Pauli ist ein Lieblingsthema des heiligen Chrysostomus. Es läßt sich darum nicht mit Sicherheit bestimmen, auf welche Predigt er oben anspielt, und ob wir dieselbe noch besitzen. Vielleicht war es eine der berühmten sieben Homilien de laudibus S. Pauli, die ebenfalls dieser Sammlung einverleibt sind. ↩
