3.
Die Veranlassungen, durch welche Freundschaften gestiftet werden, sind zahlreich. Von den schändlichen wollen wir ganz absehen; denn was diese betrifft, so wird uns niemand bestreiten wollen, daß sie verwerflich sind. Dagegen wollen wir, wenn es euch beliebt, diejenigen betrachten, welche Natur und Leben mit sich bringt. Aus dem Leben nun ergeben sich folgende: Man hat z. B. von jemandem Wohltaten empfangen; man ist schon von den Vorfahren her mit einem befreundet; man ist mit einem zu Tische gelegen oder hat in seiner Gesellschaft eine Reise gemacht oder ist sein Nachbar. Auch diese (Freundschaften) sind edel. Oder es treibt einer dasselbe Handwerk; diese nun ist schon nicht mehr ganz rein, denn da mischt sich gern Eifersucht und Neid bei. Freundschaften aber, die in der Natur gründen, sind z. B. das Verhältnis zwischen Vater und Sohn, zwischen Bruder und Bruder, zwischen Großvater und Enkel, zwischen Mutter und Kindern; wenn ihr wollt, auch das Verhältnis zwischen Mann und Weib. Denn S. 242 alle aus der Ehe entspringenden Verbindungen sind auch zum Leben gehörig und irdisch. Diese letzteren Freundschaften scheinen stärker zu sein als die ersteren. Sie scheinen, sage ich; denn sie werden gar oft von jenen übertroffen. Kommt es doch vor, daß zwischen Freunden ein innigeres und aufrichtigeres Verhältnis besteht als zwischen Brüdern und zwischen Vater und Sohn; daß der leibliche Sohn einem nicht hilft, während ein ganz Unbekannter Beistand und Hilfe leistet. — Die geistliche Liebe aber ist erhaben über jede andere, sie gleicht einer Königin, die über ihre Untergebenen herrscht, und zeigt sich in hehrer Gestalt. Keine irdische Ursache bringt sie hervor wie jene, — nicht geselliger Umgang, nicht Dienstbeflissenheit, nicht Natur, nicht Zeit; sondern von oben her kommt sie, aus dem Himmel herab. Und wie kannst du dich wundern, daß sie der Wohltat nicht bedarf zu ihrem Bestande, da sie nicht einmal durch üble Behandlung erstickt wird? Daß aber diese Liebe mächtiger ist als jene, magst du den Worten des hl. Paulus entnehmen: „Ich wünschte selbst ausgestoßen zu sein, hinweg von Christus, für meine Brüder1.“ Welcher Vater würde das wünschen, daß er selbst unglücklich werde? Und wiederum: „Aufgelöst zu werden und bei Christus zu sein, wäre um vieles besser; im Fleische zu bleiben aber ist notwendiger um euretwillen2.“ Welche Mutter möchte wohl eine solche Sprache führen und sich selbst so uneigennützig aufopfern? Und vernimm einen weiteren Ausspruch von ihm: „Denn verwaist von euch für eine kurze Weile, dem Angesichte, nicht dem Herzen nach3.“ Hier4 hat schon oft der schwergekränkte Vater jede freundliche Beziehung abgebrochen, dort aber kommt das nicht vor; sie5 ist vielmehr hingegangen, um jene, welche mit Steinigung drohten, mit Wohltaten zu überhäufen. Denn nichts, nichts ist so stark als das Band des Geistes. Wer S. 243 wegen empfangener Wohltaten Freund geworden ist, kann sich in einen Feind verwandeln, wenn man ihm nicht beständig Gefälligkeiten erweist; wer infolge vertrauten Umgangs unzertrennlich scheint, bricht den Umgang wieder ab und läßt die Freundschaft erkalten; das Weib wieder verläßt, wenn Zwistigkeiten ausbrechen, den Mann und verliert alle Liebe zu ihm; der Sohn wird mißmutig, wenn ihm der Vater zu lange lebt. Bei der geistlichen Liebe aber findet nichts von all dem statt: sie wird durch nichts dergleichen aufgehoben, weil sie auch nicht auf dergleichen beruht. Weder Zeit noch weite Entfernung noch schlechte Behandlung noch üble Nachrede, nicht Zorn, nicht Übermut noch sonst etwas findet bei ihr Eingang oder vermag sie aufzulösen. Und damit du das begreifest —: Moses wäre vom Volke beinahe gesteinigt worden, und er betete für dasselbe6. Welcher Vater hätte das für den Sohn getan, der ihn steinigen wollte, und nicht statt dessen ihn getötet? — Nach dieser Art von Freundschaft also, die vom Hl. Geiste stammt, wollen wir streben — denn sie ist stark und unauflöslich —, nicht nach jener, wie sie bei der Tafel geschlossen wird. Ist es uns doch sogar verboten, Freunde dorthin einzuführen. Denn höre, was Christus im Evangelium spricht: „Lade nicht deine Freunde noch deine Nachbarn ein, wenn du ein Gastmahl gibst, sondern die Lahmen, die Krüppel7!“ Ganz natürlich; denn dafür wartet reicher Lohn. — Doch du bist es nicht imstande, du kannst es nicht über dich bringen, mit Lahmen und Blinden zu speisen, sondern hältst das für widerwärtig und unausstehlich und magst nichts davon wissen? Das solltest du nun freilich nicht; indes ist jenes nicht Zwang. Willst du sie nicht an deine Seite setzen, so lasse ihnen wenigstens die Speisen von deinem Tische zukommen. Wer nur Freunde einlädt, der hat nichts Großes getan; denn er hat schon hienieden seinen Lohn dahin; wer aber Krüppel und Arme einlädt, der hat Gott zum Schuldner. — Seien wir darum nicht ungehalten, wenn wir hienieden den Lohn nicht S. 244 empfangen, sondern vielmehr, wenn wir ihn empfangen; denn alsdann werden wir jenseits keinen mehr erhalten. Wenn der Mensch vergilt, vergilt Gott nicht; wenn jener nicht vergilt, dann wird Gott vergelten. Suchen wir also nicht denen wohl zu tun, die uns die Wohltat erwidern können, und lassen wir uns bei unserm Wohltun nicht von solchen Gesichtspunkten leiten! Dies wäre eine frostige Gesinnung. Wenn du einen Freund einlädst, so dauert seine Dankbarkeit bis zum Abend. Deshalb ist eine solche Gelegenheitsfreundschaft schneller verbraucht als das (für die Tafel) ausgelegte Geld. Wenn du jedoch Arme und Bresthafte einlädst, so wird der Dank dafür nie aufhören; denn alsdann hast du Gott selbst zum Schuldner, der sich immerfort dessen erinnert und niemals darauf vergißt. — Sage mir aber selbst: Welch alberne Ziererei, mit einem Armen nicht am nämlichen Tische sitzen zu können! Was bringst du zur Entschuldigung vor? — Er ist so unappetitlich und schmutzig, wendet man ein. Nun, so laß ihn ein Bad nehmen und führe ihn dann an deinen Tisch! — Aber er hat unsaubere Kleider! So laß ihn seinen Anzug wechseln und gib ihm ein reinliches Gewand!
