1. Der Bestand der Schriften.
Das Korpus der Areopagitischen Schriften, das uns vorliegt, ist schon bei seinem ersten Erscheinen in der Gestalt vereinigt gewesen, die es jetzt besitzt. Es besteht aus vier Abhandlungen und zehn Briefen. Die bedeutsamste, dreizehn Kapitel umfassende Abhandlung enthält eine Erklärung von „göttlichen Namen“ (de div. nominibus 1). Sie verbreitet sich über Gottes Güte, Dasein, Leben, Weisheit, Macht, Gerechtigkeit u. s. w. Gott ist zugleich „namenlos“ und „vielnamig“; alle Namen, die ihm die heilige Schrift beilegt, gewahren nur eine unvollkommene Erkenntnis seines Wesens. Die zweite Abhandlung entwickelt die Lehre von der „himmlischen Hierarchie“ (de caelesti hierarchia) in fünfzehn Kapiteln. Nach einigen S. 9 einleitenden Bemerkungen über Quellen, Methode und Zweck der Arbeit erklärt D. das Wesen der Hierarchie, die Natur und Eigenschaften der Engel, endlich die Gliederung derselben in neun Chöre, bzw. in drei Triaden, die je eine engere Ordnung für sich ausmachen. Daran schließen sich einige Ausführungen über besondere Einzelfragen, unter denen besonders die Stelle Js. 6, 1 ff. und die mystische Deutung der den Engeln zuerteilten Symbole (cap. 13 u. 15) einen größeren Raum einnehmen. Die dritte Abhandlung bildet ein Seitenstück zur ebengenannten und hat zum Gegenstand die „kirchliche Hierarchie“ (de ecclesiastica hierarchia). Sie befaßt sich mit dem Wesen und den Stufenordnungen der Kirche, ihren drei Sakramenten (Taufe, Eucharistie und Ölung), ihren drei lehrenden Ständen (Bischöfe, Priester und Diakone) und den drei untergebenen Ständen (Mönche, Gemeindeglieder und die in eine Klasse vereinigten Katechumenen, Energumenen und Büßer). Ein Anhang über Bestattung der Toten ist beigefügt. Die vierte Abhandlung ist betitelt „mystische Theologie“ (de mystica theologia); sie gibt in fünf Kapiteln die Leitsätze über die mystische Vereinigung mit Gott, in der die Seele aller sinnlichen und verstandesmäßigen Tätigkeit sich entäußert, um in das unaussprechliche Dunkel der Gottheit einzutreten und sie auf geheimnisvolle Weise inne zu werden (ἐποπτεία). Die zehn Briefe verteilen sich auf nachstehende Adressaten: vier sind an einen Mönch Cajus und je einer an einen Diakon Dorotheus, an einen Priester Sopater, an einen Bischof Polykarp, an einen Mönch Demophilus, an einen Bischof Titus und an den Apostel Johannes gerichtet. Inhaltlich geben sich die Briefe als Nachträge und Ergänzungen zu den Hauptwerken oder als praktische Anweisungen für seelsorgliches Wirken. Weil in allen den genannten Schriften die gleichen Grundgedanken wiederkehren und konsequent auf die verschiedenen Wesensreihen der Schöpfung angewendet werden, weil dieselben Eigentümlichkeiten der Diktion in ungetrübter Übereinstimmung überall hervortreten und weil überdies mehrfache Verweisungen von dem einen Werk auf das andere eingestreut sind, so ist eine hinreichende Bürg- S. 10 schaft gegeben, daß wir es nur mit einem Autor zu tun haben, auf den die gesamte Anlage, Stoffwahl und Ausführung der Schriften zurückzuführen ist.
Die ganze Gedankenwelt in den bezeichneten Schriften ist in ein straffes System geschlossen. Gott, die letzte Ursache aller Dinge, ist in sich selbst über alle Begriffe erhaben; weder die affirmativen noch die negativen Prädikate vermögen uns sein Wesen auszudrücken. Seine Güte, seine Weisheit, seine Gerechtigkeit, sein ewiges und einfachstes Sein suchen wir allerdings in Worte zu fassen, müssen diese aber sofort negieren und etwas zu denken suchen oder vielmehr zu denken aufgeben, was über alle Bejahung und Verneinung (θεολογία καταφατική und ἀποφατική) unendlich hinausgeht. Das innertrinitarische Leben Gottes (θεολογία διακεκριμένη) schildert D. in kurzen Vergleichen, die von Blüten, Sprossen, Lichtern entlehnt sind und auf die zweite und dritte Person angewendet werden. Für das Wirken nach außen sind die theologischen Prädizierungen allen drei Personen gemeinsam (θεολογία ἡνωμένη). Die Gottheit gibt im Drang der Liebe und Güte den Wesen außer sich ein tausendfältig abgestuftes, in innigster, wechselseitiger Verkettung verbundenes Dasein (πρόοδος), umfaßt und hält sie alle innerhalb ihres ordnenden und fürsorglichen Bereiches (πρόνοια) und wendet sie wieder in aufsteigender Bewegung zu sich zurück (ἐπιστροφή, κύκλος). So staffelt sich vor dem entzückten Auge des Areopagiten das ganze Universum zu einem riesigen Abstieg und Aufstieg. Er faßt, wie wir schon andern Orts bemerkten 2, in einer großartigen Intuition nicht bloß die Welt der himmlischen Geister und der Kirche Gottes (die beiden Hierarchien) in ein organisches Ganze zusammen, so daß die oberste Stufenordnung der kirchlichen Hierarchie unmittelbar an die unterste Klasse der Engel sich anschließt, sondern die ganze Schöpfung mit allen ihren Wesensreihen wird ihm zur himmelragenden Leiter, deren oberste Sprosse, der Engelchor der Seraphim, Cherubim und Thronen, bis in das innerste, Gott umgebende Dunkel hineinreicht, während die alleruntersten Stufen S. 11 in das Reich der vernunftlosen und leblosen Dinge hinabdringen. Die Fülle des göttlichen Lichtes, welches zuerst und am reichsten die obersten Engel erfüllt, geht durch alle Zwischenstufen in stetig fortschreitender Abnahme hindurch, bis es bei den Dingen der Körperwelt noch in einem schwachen Widerschein zurückgeworfen wird. Denn jedes Ding nimmt nur soviel davon auf, als seine individuelle Natur erlaubt.
Die Art des Hervorgehens der Dinge aus Gott sucht D. in verschiedenen bildlichen Wendungen uns nahe zu bringen, wobei er sich gegen eine pantheisierende Auffassung, welche heidnische Vorgänger mit solchen Ausdrücken verbanden, verwahrt (d. d. n. IV, 10; c. h. IV, 1). Er redet von der Überfülle des Seins in Gott, von einem Hervorsprudeln und Überwallen, von einem Herausblitzen aus dem Lichtmeere der Sonne der Gottheit, von einem riesigen Wurzelstocke, der eine unabsehbare Pflanzenwelt aus sich hervorkeimen läßt und doch alles trägt, erhält und beherrscht, von einem Kreise, der alle Radien in seinem Mittelpunkt vereinigt. Die Anwendung dieser Grundgedanken auf die „himmlische“ und „kirchliche Hierarchie“ wird in nachstehender Übersetzung deutlich vor Augen treten.
Der gleiche Verfasser tut an verschiedenen Stellen auch noch anderer seiner Schriften Erwähnung, welche im Verein mit den bereits skizzierten eine Art theologischer Enzyklopädie darstellen würden. Er spricht von seinen „theologischen Grundlinien“ (d. d. n. II, 3); „göttlichen Hymnen“ (c. h. VII, 4); „symbolischer Theologie“ (c. h. XV, 6); dem „gerechten Gerichte Gottes“ (d. d. n. IV, 35); der Abhandlung „über die Seele“ (d. d. n. IV, 2) und „über die intelligiblen und sinnfälligen Dinge“ (e. h. I, 2). Aber von all diesen zitierten Schriften läßt sich keine weitere sichere Spur nachweisen; ebensowenig vermochte man bis heute einen sichern Aufschluß über jenen Hierotheus zu gewinnen, von dem D. als seinem hochverehrten Lehrer einige Proben der Gelehrsamkeit mitteilt. Der Verdacht, daß im einen wie im andern Falle nur eine literarische Fiktion vorliege, erscheint nicht unbegründet, zumal da es S. 12 nicht an gewissen Widersprüchen und Unebenheiten in dieser Hinsicht fehlt.
