3.
Wie sieht also jene Wirklichkeit in Gott aus, welche das Element der Einzigkeit Gottes darstellt? Man könnte auch fragen: Was ist das Wesen Gottes? Auf diese Frage gibt es keine befriedigende Antwort. Wegen seiner Unendlichkeit läßt sich Gottes Wesen nicht in unseren Begriffen fassen und nicht in unseren Worten ausdrücken. Würden wir ihn fassen können, würde seine Größe ein Maß haben.1 Was wir begreifen können, ist nicht erhaben über das Maß unserer Endlichkeit. „Wenn du ihn begreifst, ist er nicht Gott.“2 Zum wahren Wissen von Gott gehört das Wissen um unser Nichtwissen. „Gott wird besser durch Nichtwissen gewußt“3 Wer dies besitzt, hat eine wissende Unwissenheit (docta ignorantia).4 Diese schon bei Philo und Plotin sich findenden Gedanken leben fort in der mittelalterlichen Mystik und insbesondere bei Nikolaus von Kusa.5 Gelegentlich spitzt Augustinus diese Anschauungen so zu, daß er Gott nicht einmal unaussprechlich heißen will, weil auch damit schon die Tatsache seiner Unaussprechlichkeit preisgegeben ist.6 Solche Sätze dürfen indes nicht zu der Anschauung verführen, daß Augustinus uns vor Gottes S. 24 Wesen zu völligem Schweigen, zum restlosen Nichtwissen verurteilt glaubt. „Wenn seine Größe aber keine Grenze hat, dann können wir zwar etwas von ihm fassen, doch können wir ihn nicht ganz fassen.“7 Wir können in einem gewissen Maße also eine Gotteserkenntnis gewinnen. „Ebenso ist der Dienst der menschlichen Sprache zugelassen, und Gott hat gewollt, daß wir ihm freudig unser Lob weihen.“8 „Alles kann von Gott gesagt werden, und nichts kann würdig gesagt werden. Wenn man einen zutreffenden Namen sucht, findet man keinen. Wenn man irgendwie von Gott sprechen will, paßt jeder Name.“9 Hilfsdienst für diese Gotteserkenntnis leistet das Geschöpf. Gott ist den Geschöpfen ähnlich und unähnlich, ähnlich in der Unähnlichkeit, unähnlich in der Ähnlichkeit.10 Mit aller Schärfe hat Augustinus dies Prinzip der Analogie zwischen Gott und Schöpfung ausgesprochen.
Will man im Bewußtsein der Grenze alles menschlichen Denkens und Sagens von Gott sein Wesen in einer kurzen Formel ausdrücken, so muß man sagen: Gott ist das absolut einfache Sein.11 Das Sein steht in der Mitte des Augustinischen Gottesbegriffes. Er ist in höchstem Maße. Er ist das Sein selbst. Er besitzt es nicht durch Teilnahme und daher auch nicht in Abhängigkeit. In ihm ist kein Nichtsein, keine Nähe zum Nichts. In dieser Wesensbestimmung Gottes laufen biblische und eleatisch-neuplatonische Anschauungen ineinander. Doch ist das von Augustinus gemeinte Sein im Gegensatz zum Sein der Eleaten und zu manchen Gedankenlinien bei Plotin — es gibt daneben aber auch bei Plotin Schilderungen der reichen Fülle des Seins12 — S. 25 nicht das Sein der Leere, sondern höchster Fülle und Vollkommenheit. Man darf nur nicht die Vollkommenheiten als eigenschaftliche Hinzufügungen zum Wesen, als Akzidenzien, auffassen. Die aristotelischen Kategorien kann man auf Gott nicht anwenden. Die göttlichen Vollkommenheiten besagen nur den inhaltlichen uns in immer neuen Gesichtspunkten begegnenden Reichtum, der in sich völlig einfachen göttlichen Wirklichkeit13 Man hat schon gemeint, in der Liebe das Grundelement des Augustinischen Gottesbegriffs sehen zu müssen.14 Tatsächlich fehlt sie nicht in der göttlichen Fülle. Aber sie hat keinen Vorrang vor dem göttlichen Sein. Die Augustinustexte, die für diese Behauptung sprechen, lassen sich zu Dutzenden aufhäufen.15 In Gott hat keine Vollkommenheit ein Übergewicht vor einer anderen, weil die absolute Seinseinfachheit seinem Wesen das Gepräge gibt. Benz 16 wies darauf hin, daß der griechischen Philosophie die Vorstellung, Gott sei Wille und Liebe, aus der ägyptischen Religionsphilosophie zufloß, und daß sie von hier aus auf dem Wege über den Neuplatonismus dem Augustinischen Gottesbegriff einverleibt wurde. In Wirklichkeit war eine solche Entlehnung nicht nötig, da die Vorstellung, daß Gott Wille und Liebe ist, in der Schrift auf das bestimmteste betont ist. Tatsächlich wird auch Augustinus nicht müde, das Johanneswort17 zu zitieren: „Gott ist die Liebe.“
Infolge der völligen Einfachheit ist Gott auch unwandelbar und ewig. Eine Auseinanderlegung in ein Vorher und Nachher ist bei ihm undenkbar. „Sein ist der Name der Unwandelbarkeit.“18 „Mag ein Ding so ausgezeichnet sein wie immer, wenn es wandelbar ist, dann besitzt es das Sein nicht wahrhaftig. Denn dort ist S. 26 nicht das wahre Sein, wo auch Nichtsein ist.“19 Wie Gott keine Vergangenheit und keine Zukunft, also keine Geschichte hat — die Zeithaftigkeit ist das Charakteristikum des Geschöpfes —, sondern nur unvergängliche Gegenwart, wie er kein War und Wird hat, sondern nur ein stehendes Ist, so ist ihm jedes Nebeneinander im Raume fremd.20 Gott ist lebendig, nicht so, als ob sich das Leben aus dumpfen Untergründen heraufringen würde, sondern so, daß er das Leben ist, und zwar das Leben des Erkennens und Wollens. Gottes Erkennen ist bestimmt durch seine Unwandelbarkeit und Unabhängigkeit, letztlich also von seinem absoluten Sein. Er schaut nicht zurück in die Vergangenheit, schaut nicht aus in die Zukunft; er schreitet nicht voran von Gedanke zu Gedanke, sondern umfaßt alle Tiefen und Weiten seines Selbst und alles Außergöttlichen mit einem Blicke seines überall hindringenden Geistes.21 „Bestünde die Welt nicht, so wäre sie uns nicht bekannt. Wäre sie Gott nicht bekannt, so bestünde sie nicht.“22 Ebenso gilt: „Einmal und zugleich und immer will Gott, was er will.“23 Wenn er Zeithaftes schafft, wird er nicht in das Zeithafte verstrickt.24
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Enarr. in ps. 144 n. 6; Sermo 117 c. 3 n. 5. ↩
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Sermo 117 c. 3 n. 5. ↩
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De ordine l. II c. 16 n. 44. ↩
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Epist. 130 c. 15. ↩
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Joh. Übinger, Der Begriff der docta ignorantia in seiner geschichtlichen Entwicklung, in: Archiv für Philosophie. Erste Abteilung. Band VIII. N. F. I. Band 1—32; 206—240. Vansteenberghe, Autour de la docte ignorance. (Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters XIV 1—4), Münster 1915. M. Grabmann, Die Grundgedanken des hl. Augustinus über Seele und Gott, Köln 1929. ↩
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Sermo 117 c. 5 n. 7; 341 c. 7 n. 9; De doctrina christiana, l. I c. 6. ↩
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Ennar. in ps. 144 n. 6. ↩
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De doctrina christiana I. I c. 6. ↩
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Tract. 13 in Joann. n. 5. ↩
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Gilson a. a. O. 359―370. E. Przywara S. J., Augustinus. Die Gestalt als Gefüge. Leipzig 1934, 235―258 (mit vielen Augustinustexten). ↩
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Siehe Texte und Literatur in meinem [Prof. Dr. Michael Schmaus] Buche: Die psychologische Trinitätslehre des hl. Augustinus. Münster 1927, 82 f. ↩
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Jakob Barion, Plotin und Augustinus. Untersuchungen zum Gottesproblem. Berlin 1935, 65―88. ↩
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De trinitate, l. VIII c. 3 n. 4; l. V c. 1 n. 2. ↩
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E. Benz, Marius Victorinus und die Entwicklung der abendländischen Willensmetaphysik. Stuttgart 1932. ↩
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Vgl. Grabmann a. a. O.; Schmaus a. a. O.; Gilson a. a. O., 393; dazu die dort angeführte Literatur. ↩
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A. a. O. ↩
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1 Joh. 4, 8. ↩
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Sermo 7 n. 7; De natura boni contra Manich. c. 9. ↩
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Tract. 38 in Joann. n. 10; vgl. auch Confess. l. XII c. 7; Enarr. in ps. 121 n. 5. ↩
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Confess. l. XI c. 11; De quant. animae c. 34 n. 77; Enarr. in ps. 134 n. 6; Enarr. in ps. 101 sermo II n. 10; De genesi ad litt. l. V c. 5 n. 12; Epistola 187. ↩
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Schmaus, 87; 95―99. ↩
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De civitate Dei l. XI c. 10 n. 3. ↩
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Confess. l. XII c. 15 n. 18. ↩
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Vgl. für die Gotteslehre des hl. Augustinus außer den angeführten Werken besonders noch: J. Mausbach, Die Ethik des hl. Augustinus. Freiburg 1909, I. Band, 128―137. Nourrisson, La philosophie de S. Augustin. Paris 1865, I 272―299. E. Portalié, Augustin (Saint), in: Dictionnaire de théologie catholique I 2267―2472. H. Weinand, Die Gottesidee, der Grundzug der Weltanschauung des hl. Augustinus. Paderborn 1910. Grabmann weist in dem angeführten Werke S. 92 hin auf das Fortleben der augustinischen Gotteslehre in der mittelalterlichen Scholastik und Mystik. ↩
