Einführung in die Rufe der Seele zu Gott
Diese »Rufe der Seele« sind der Aufschrei der von der göttlichen Liebe wunden Seele in jenen erhabenen Augenblicken, da der göttliche Bräutigam in der heiligen Kommunion sich aufs Innigste mit ihr vereinigt hat. Sie verdanken nämlich ihr Entstehen dem Herzensbedürfnis Theresias, ihren Gefühlen der Liebe und Hingebung an den göttlichen Geliebten, von denen ihr Herz in den Augenblicken nach der heiligen Kommunion übervoll war, Ausdruck zu geben. Sie hätte in solchen seligen Stunden der innigsten Vereinigung mit ihrem göttlichen Bräutigam wie die Braut im Hohenliede durch die Straßen und Plätze der Stadt eilen und allen von ihrem übergroßen Glück der Liebe zu Christus erzählen mögen. Da sie dies nicht konnte, mußte sie diesen ihren Gefühlen höchster Wonne, ihren Klagen ob des allzulangen Weilens auf dieser Welt, fern vom Geliebten, ihrem leidenschaftlichen Verlangen nach immerwährendem Vereintsein mit ihm, ihrem Flehen nach baldigem Aufgelöstwerden in Christus, wenigstens auf dem Papiere Ausdruck verleihen. So sind diese Prunkstücke katholischer Mystik entstanden, die an lyrischem Schwung und Schönheit der Sprache, an Innigkeit der Liebe nicht mehr ihresgleichen haben in der gesamten mystischen Literatur.
Auch über die Zeit des Entstehens dieses Schriftchens wissen wir nichts sicheres. Allein da diese »Rufe« auf der gleichen Linie liegen wie ihr bekanntes Lied: »Ich sterbe, weil ich nicht sterben kann«, das wohl in die Zeit der mystischen Verlobung Theresiens mit Christus zu setzen ist, also in die Jahre 1569, 1570, so dürfte wohl auch diese Schrift um diese Jahre entstanden sein; jedenfalls nicht nach dem Jahre 1572 oder gar erst um 1579, wie die Bollandisten wollen, noch auch um 1559, wie die französischen Herausgeber der Werke unserer Heiligen annehmen möchten.
Auch diese Schrift ist nicht im Original auf uns kommen, sondern nur in Abschriften, deren eine dem P. Ribera S. J., einem der Beichtväter der Heiligen, vorgelegen hat. Im Druck erschienen die »Rufe der Seele« zum erstenmal zusammen mit den anderen Werken der Heiligen in der editio princeps des Paters Ludwig de León, Salamanka 1588.
Pater Ambrosius a. S. Theresia, O. C. D. (Rom).
