Einführung in die Gedichte der Heiligen
Man mag sich vielleicht darüber wundern, daß eine Frau wie die heilige Theresia, die uns unvergleichliche mystische Werke hinterließ und die sonst von Arbeiten aller Art überhäuft war, sich auch mit Abfassung von Gedichten beschäftigte, was von manchen großen Geistern gern als überflüssige Spielerei angesehen wird. Und doch finden wir ein Gleiches auch bei ihrem großen geistlichen Sohn Johannes vom Kreuz sowie bei vielen Mystikern nicht nur jener Epoche, sondern auch der folgenden Jahrhunderte. Diese Tatsache hat ihren Grund darin, daß in diesen mystischen Seelen der Feuerbrand der göttlichen Liebe loderte, der mit unwiderstehlicher Gewalt in gewissen Momenten sich nach außen Bahn brach und in Versen und Liedern Gestalt wurde. Wie in der profanen Literatur gerade die schönsten lyrischen Gedichte zumeist einer im Innern aufgestauten großen Liebe entspringen, so nicht minder in der geistlichen Poesie. Und das gilt in erster Linie von der großen heiligen Theresia von Ávila.
Aber bei der heiligen Theresia hat dieses poetische Schaffen noch einen anderen Grund: Wir wissen, Theresia war von Natur aus ein froher, heiterer Charakter, der um sich überall Frohsinn und Freude verbreitete. Sie mochte es nicht leiden, wenn ihre Schwestern ein griesgrämiges Gesicht machten, weil das mit der wahren Frömmigkeit unverträglich ist. Darum suchte sie bei jeder Gelegenheit, zumal in der Zeit der gemeinsamen Erholung oder anläßlich von kirchlichen oder klösterlichen Feiern, die Unterhaltung zu würzen durch geistliche Lieder, die sie mit ihrem Gesang und mit dem Tamburin begleitete. Vielfach improvisierte sie solche Lieder nach Art der damals in ihrer Heimat üblichen Coplas.
Während nun jene Lieder Theresias, welche dem Überschwang ihrer Gottesliebe entsprangen, zumeist einen hohen Grad von Vollendung zeigen, haften letzteren, die nur Gelegenheitsprodukte sind, auch die Mängel und zugleich die Vorzüge aller derartigen Stegreiferzeugnisse an. Ohne sich viel um die Gesetze der Prosodie zu kümmern, offenbart Theresia in ihnen gleichwohl viel natürliche Anmut, Wärme und poetische Veranlagung. Jedenfalls kann unserer Heiligen das Verdienst nicht abgesprochen werden, daß sie durch Hineintragen von mystischem Gedankengut in das Reich der Poesie mehr als frühere spanische Dichter die Literatur ihres Landes befruchtet hat. Inhaltlich könnten die Gedichte der heiligen Theresia geschieden werden in rein mystische, in denen sie das Wehen und Wirken der göttlichen Liebe besingt; in aszetische, in denen sie in poetischem Gewande ihren geistlichen Töchtern Mahnungen erteilt zur Übung gewisser Tugenden; und in hagiographische, in denen sie die Herrlichkeit oder den Heldenmut verschiedener Lieblingsheiligen feiert.
P. Ambrosius a S. Teresia O. C. D. (Rom)
