Quellen
S. 53 Das der Überlieferung von der Thebäischen Legion zugrundeliegende Martyrium fand ungefähr um das Jahr 300 statt. Schon die Tatsache, daß seit den Ereignissen rund 1650 Jahre verflossen sind, legt uns nahe, an die Quellen keine allzuhohen Ansprüche zu stellen, sondern dankbar anzunehmen, was sich an Nachrichten über jene Zeit in unsere Tage gerettet hat. Dies um so mehr, als die Zahl von Dokumenten ersten Ranges über die Christenverfolgungen ganz allgemein dürftig ist. In unserm Fall ist dies zum vornherein zu erwarten, da es sich einerseits um einen militärisch «kurzen Prozeß» gegen meuternde Fremdenlegionäre, anderseits um das stille Leben einer christlichen Jungfrau mit örtlich begrenztem Wirkungskreis handelt.
Als Trägerin der Kunde von Leben und Tod der heiligen Thebäer kommt darum fast nur mündliche Überlieferung in Frage, die naturgemäß erst nach geraumer Zeit schriftlich niedergelegt und noch später faßbar wird. Es wird nun gelegentlich geltend gemacht, der lebendige Strom der Tradition sei durch die Katastrophe der Völkerwanderung und den Zusammenbruch des Römerreichs verschüttet worden. Demgegenüber legt neuere Forschung immer überzeugender dar, daß die Germaneninvasion keinen völligen Bruch mit der römisch-keltischen Vergangenheit brachte. Aus mannigfachen kleinen Bausteinen gewinnt sie vielmehr das Bild einer kontinuierlichen Besiedlung und damit auch einer kontinuierlichen Kultur. Als deren Träger erscheinen einerseits die schon unter dem römischen Regime gelegentlich massenweise angesiedelten Germanen, anderseits die auch unter der Germanenherrschaft an ihren Wohnsitzen verbliebenen romanisierten ursprünglichen Landesherren. Steht doch heute fest, daß große gallische Adelsfamilien trotz des zusammengebrochenen Imperiums über die Burgunderzeit bis ins Merowingerreich in wenig veräinderter Stellung blieben und die Verbindung mit dem Geistesgut der Antike aufrecht erhielten. Ihre Glieder bestimmten als Bischöfe insbesondere Zusammensetzung, Haltung und Tradition der gallischen S. 54Kirche. Ähnlich wie in Burgund lagen die Verhältnisse in Rätien. Aber auch das alemannische Siedlungsgebiet braucht keine Ausnahme zu machen. Fand doch Columban ums Jahr 600 in Arbon eine aus Römern und Alemannen gemischte Christengemeinde unter dem Priester Willimar. Ähnliche Zustände sind für Solothurn, Zürich und Zurzach keineswegs unmöglich, sondern eher wahrscheinlich. Damit ist aber zumindest die Möglichkeit, ja Wahrscheinlichkeit ununterbrochener christlicher Ortsüberlieferung gegeben, von der auch die Ereignisse um die Thebäische Legion nicht ausgeschlossen sind, zumal wenn sie sich an wirkliche Gräber knüpfen konnten.
Besonders günstig liegen die Umstände für die Nachrichten über das Martyrium des heiligen Mauritius und seiner engern Gefähhrten, damit aber auch über den Kern der Tradition. Gewährsmann ist nämlich der heilige Bischof Eucherius von Lyon, Sprosse einer jener für die Kontinuität der Kultur besonders bedeutsamen gallischen Senatorenfamilien. Vater zweier Söhne, die noch zu seinen Lebzeiten Bischöfe wurden, ging Eucherius im Einverständnis seiner Gattin als Mönch auf die berühmte Lerinische Insel Sainte-Marguerite. Seine hervorragende Rolle in der Mönchsgemeinschaft kommt darin zum Ausdruck, daß Cassianus ihm und Honoratus den zweiten Teil seiner Collationes widmete, worin einem heiligen Benedikt und der abendländischen Kirche überhaupt die Gepflogenheiten der Mönche des Ostens übermittelt wurden. Wider seinen Willen kam Eucherius auf den Metropoli tanstuhl von Lyon. 441 wohnte er dem ersten Konzil von Orange ( Arausicanum) bei und war einer der eifrigsten Verfechter der Lehre des heiligen Augustinus gegenüber den gallischen Semipelagianern. Er starb um 450.
Die meisten seiner Schrifien stammen aus den Jahren nach 426 und sind vielfach aszetischen oder exegetischen Inhalts. Sie verraten außergewöhnliche Begabung und feine literarische Bildung. Nicht umsonst bezeichnet ihn Maremus als den weitaus größten unter den großen Bischöfen seines Jahrhunderts. Seine Sprache ist von seltener Reinheit und erinnert an das goldene Zeitalter der lateinischen.
S. 55Literatur. Die Darstellung des Martyriums der Thebäer erhebt sich stellenweise zu dichterischem Schwung. Sie ist einem Bischof Salvius gewidmet, der wohl in Martigny zu suchen ist und damit Oberhirte über das Märtyrergrab von Acaunum war. Vielleicht steht die Schrift im Zusammenhang mit der Ansiedlung der Burgunder und mit dem Kampfgegen den Arianismus. Zeitliche Nähe, Vertrautheit mit den örtlichen Verhältnissen, bedeutende Gewährsmänner und kraflvolle Darstellung sichern dem Berichte einen hohen Grad von Glaubwürdigkcit. Er ist enthalten in dem aus dem 7. Jahrhundert stammenden Pariser Codex 9550 und wurde kritisch veröffentlicht von B. Krusch in den Monumenta Germaniae Historica (Script. Rer. Merov. tom. III. 1896).
Zwei Jahrhunderte jünger sind die ältesten Handschriften mit zusammenhängenden Darstellungen der übrigen in diesem Bändchen behandelten Thebäer. Sie gehören dem 9.Jahrhundert und damit der karolingischen Renaissance an. Doch berufen sich diese Zeugnisse ausdrücklich auf überkommene Berichte, setzen die geschichtlichen Begebenheiten sichtlich als bekannt voraus oder verraten sich durch Schreibfehler oder Lücken als Abschriften noch älterer Manuskripte. Sie wollen und können zur Hauptsache nicht Erzeugnisse dichterischer Darstellungskunst, sondern schriftliche Festlegung oder Bearbeitung alter Überlieferung sein.
Schon von Eucherius genannt werden die Solothurner Märtyrer Ursus und Viktor, ebenso vom Chronisten Fredegar. Ausführlich behandelt sie ein unbekannter Verfasser im Codex 569 der St.-GalIer Stiftsbibliothek. Die vorliegende Übersetzung ist gefertigt nach der Wiedergabe von A. Lütolf in «Die Glaubensboten der Schweiz vor St.Gallus» ( Luzern 1871 ). Der St. Galler Text wurde gewählt, weil er unserm Kulturbeteich angehört. Etwas knapper und darum von der Wissenschaft bevorzugt ist der ungefähr gleich alte Text im Codex Signacensis, veröffentlicht von den Bollandisten in den Acta Sanctorum zum 30.September. Beide Berichte stellen Viktor S. 56vor Ursus und berichten eingehend über die Translation der Reliquien des heiligen Viktor nach Genf und deren Wiederauffindung. Sie geben darum wahrscheinlich die Tradition der Rhonestadt wieder. Eine zeitlich ebenbürtige Festlegung der Solothurner Überlieferung ist noch nicht bekannt geworden.
Die wohl ursprünglichste Fassung der Tradition über Felix und Regula findet sich in Codex 225 der St.-Galler Stiftsbibliothek. Unserer Übersetzung liegt die Textveröffentlichung von S. Vögelin im ersten Band der «Mitteilungen der Antiquarischen Gesellschaft Zürich» (1841) zugrunde. Die Beschreibung Zürichs legt eine bedeutend vor dem 9. Jahrhundert liegende erste Aufzeichnung dieses Textes nahe. Über den Charakter der darin genannten Offenbarung an den Mönch Florentius lassen sich nur Vermutungen anstellen. Auch seine Persönlichkeit ließ sich noch nicht bestimmen. Gewöhnlich wird er an einem der kirchlichen Zentren der Westschweiz gesucht. Die geographischen Angaben des Textes lassen es als nicht ausgeschlossen erscheinen, daß er oder der Verfasser des Gesamtberichtes im nahen Rätien zu finden ist. Erwähnenswert ist die sprachliche Fassung der sogenannten Kopfträger-Legende, die ein spiiteres Mißverständnis nahelegt (et acceperunt beatissima corpora eorum suaque capita in manibus eorum de ripa fluminis Lindimaci). Die Überlieferung von Felix und Regula fand in neuester Zeit eine bejahende Würdigung durch E. Egloff in den Diasporakalendern der Jahre 1947, 1948 und 1950 (Zürich).
Ziemlich genau ins Jahr 888 zurück geht die älteste, in einfachem, klassischem Latein geschriebene Darstellung des Lebens der heili gen Verena. Verfasser ist wahrscheinlich Abt Hatto III. von Reichenau. Er widmete seine Schrift wohl niemand anders als der heiligen Richardis, der Gemahlin Kaiser Karls III., die sich damals in klösterliche Einsamkeit zurückzog und vielleicht vorübergehend in Zurzach sich aufhielt. Der Text trägt den Charakter einer am Leben der heiligen Verena erläuterten Darlegung des Ideals christlicher Jungfräulichkeit und dadurch bedingter Auswahl des Stoffes. Ein weniger klassisch geschulter, aber ortskundiger Schreiber S. 57fügte etwa hundert Jahre später einige Abschnitte bei. Auch diese werden oben wiedergegeben, weil sie für die spätere Entwicklung der·Tradition charakteristische Züge aufweisen und das für die kommenden Jahrhunderte gültige volkstümliche Bild der Heiligen gestalten. Beide Texte fanden eine würdige Ausgabe und Erklärung durch A. Reinle in «Die heilige Verena von Zurzach. Legende, Kult, Denkmäler » (Base/ 1948). Beigefügt sei noch, daß die In schrift eines bei Solothurn gefundenen Ringes unter anderem mit Verena gedeutet wird, und die Frage, ob der Name Verena nicht entstanden sein könnte aus der falschen Lesung einer Grabschrift V IRENA, das heißt Virgo Irena (Jungfrau Irena). Inhaltlich verdient Erwähnung, daß auch Eusebius einen Märtyrerbischof Cheremon kennt, und daß Verenas Lehrsprüche der Schrifi des heiligen Cyprian «Über die Haltung der Jungfrauen» entnommen sind.
Die Thebäerfrage hat schon einer reichen Literatur gerufen, die jedoch noch lange nicht abgeschlossen ist. Einmal steht zu erwarten, daß die fortschreitende Veröffentlichung von Handschrifienkatalogen bisher unbeachtete Zeugnisse zutage fördert. Deren textkritischer Vergleich dürfte unter Zuhilfenahme der neuen philologischen Hilfsmittel wertvolle Aussagen erlauben über die tatsächliche Abfassungszeit der ältesten Texte. Darüber hinaus wollen aber die Berichte auch nach ihrer inhaltlichen Seite immer von neuem erläutert und mit den stets wachsenden und wechselnden Ergebnissen der allgemeinen und der besondern Geschichtsforschung verglichen werden, zumal die Spätantike erst heute zu einem festen wissenschaftlichen Begriff und Bild wird. Schon ein oberflächlicher Blick in neuere Veröffentlichungen bietet wertvolle Anhaltspunkte für die Einordnung der Thebäer in den Rahmen der Gesamtgeschichte und für die Lösung oft wiederholter Einwände. Einzelne Beitrage sind zu erwarten von einem Vergleich mit den Forschtmgsergebnissen über die Geschichte Ägyptens zur Zeit der Römer, das Mönchswesen in der Thebais, die Heeresorganisation und die Kriegsgerichte zur Zeit Diokletians, die burgundischen Bischofslisten, die Geschichte der Dogmen, der Aszese und S. 58der liturgischen Texte usw. Darüber hinaus wollen auch die Thebäer Oberitaliens, Frankreichs und Deutschlands in die Gesamtwertung einbezogen werden. Man vergleiche dazu J. Mosch in «Zeitschrift für Schweizerische Kirchengeschichte» (43. Jahrgang, 1949, Seite 61). Solche Studien anzuregen, ist Absicht dieser Schlußbemerkungen und Teilziel der vorausgehenden Textzusammenstellung. Auch für die Wissenschaft gibt es ein verpflichtendes Erbe.
Am Tage der ersten Korrektur des Satzes durch den Herausgeber brachte die Zeitung eine Meldung von römischen Funden an der Münstergasse in Zürich, also in der Nähe des Märtyrergrabes. Es handelt sich um eine Hauswand und den Grund eines Badebassins, vermutlich aus dem Ende des zweiten oder dem Anfang des dritten nachchristlichen Jahrhunderts. Der Fund wird als bedeutsam bezeichnet, weil bisher keinerlei Anzeichen dafür vorhanden waren, daß auch auf dem rechten Limmatufer eine bedeutende römische Siedlung mit wichtigen Gebäuden bestanden hat. So festigt sich Schritt für Schritt der Boden für die Überlieferung über Felix und Regula.
