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Denke also an die Hölle, denke an Jene, welche viel besser sind als du, bedenke, wie viele Sündenstrafen du noch zu erstehen hast! Denkst du an solche Dinge, dann wird dein Sinn bald mit Demuth erfüllt werden. Aber, wendest du ein, diese Dinge kann ich mir mit meinem S. 740 schwachen Geiste nicht recht vorstellen. Gut, so denke an zeitliche, irdische Dinge, an die Gebrechlichkeit der menschlichen Natur, an die Nichtigkeit des menschlichen Wesens! Du siehst eine Leiche über die Straße tragen, Waisen folgen ihr, eine jammernde Wittwe, wehklagende Diener, trauernde Freunde. Kannst du dir da nicht ein lebhaftes Bild machen von der Nichtigkeit alles Irdischen, durchdringt dich da nicht aufs lebhafteste die Wahrheit: „Ein Schatten nur und ein Traum ist alle Erdengröße!“
Aber Dieß willst du nicht thun? So denke an die Reichen, an Diejenigen, welche im Kriege schaarenweise umkommen! Stelle dir im Geiste vor die Paläste der großen und Mächtigen dieser Welt, die jetzt in Trümmer gefallen und zu Boden gestürzt sind! Gedenke, wie stolz und mächtig sie einstens sich erhoben, und jetzt sind ihre Namen vergessen! Alle Tage kannst du, wenn du willst, solche Beobachtungen machen, da wechseln Herrschergeschlechter und Solche, die einst ungemessene Schätze besaßen, verlieren ihre Güter. „Viele Tyrannen mußten auf dem Boden sitzen, einer aber trug die Krone davon, von dem es Niemand vermuthet hätte.“1 Kommen solche Dinge nicht fast täglich vor? Gleicht unser Leben nicht einem Rade? Lies nur einmal unsere Geschichte, oder die Geschichte anderer Völker; jedes Blatt zeigt dir solche Beispiele. Willst du aber aus Hochmuth die Lehren nicht beachten, welche dir unsere Zustände und Verhältnisse geben, so höre wenigstens auf die Sprache der Philosophen, auf die du ja mit großem Respekte blickst. Mit belehrender Stimme verkünden sie dir die Geschicke von Völkern, die längst vom Schauplatze der Welt verschwunden sind, und dasselbe thun die Dichter, die Redner, die Sophisten, die Geschichtschreiber. Kurz, allenthalben, wohin du dein S. 741 Auge wendest, treten dir Beweise für die Wahrheit der obigen Behauptung entgegen.
Wenn du aber von all Diesem Nichts betrachten willst, so fasse einmal ins Auge die Beschaffenheit des menschlichen Leibes und sein Ende! Bedenke einmal, was du bist, wenn du schläfst! Kann dich da nicht auch sogar ein kleines Thier tödten? Wie oft ist es schon geschehen, daß ein kleines Insekt, das von der Decke herabfiel auf einen Schlafenden, diesen um das Auge gebracht oder ihm sonst Schaden verursacht hat! Ja, bist du nicht schwächer als die Thiere? Doch, du sagst, du stehest über ihnen durch deinen Verstand. Aber du hast ja keinen Verstand, denn dein Stolz ist ja ein Beweis von deinem Unverstand. Worauf bildest du dir doch etwas Besonderes ein? Doch wohl auf deinen schönen Körperbau? Allein hierin sind dir die Thiere weit voraus, und körperliche Vorzüge finden sich auch bei Räubern, Mördern und Gräberdieben. Oder auf deine Klugheit? Aber der Hochmuth ist kein Zeichen von Klugheit, und durch ihn hauptsächlich machst du es dir selbst unmöglich, klug zu werden.
Darum wollen wir unsern hochfahrenden Sinn in Schranken halten, wollen wir bescheiden, demüthig, sanft und milde werden, denn die Sanftmüthigen hat Christus vorzugsweise selig gepriesen, indem er sprach: „Selig die Armen im Geiste!“2 und indem er ein anderes Mal ausrief: „Lernet von mir, denn ich bin sanftmüthig und von Herzen demüthig.“3 Darum hat er auch seinen Jüngern die Füße gewaschen, um uns ein Beispiel der Demuth zu geben.
Alle diese Lehren nun wollen wir eifrigst zu unserm Heile benutzen, auf daß wir theilhaftig werden können der S. 742 Güter, welche Gott Denen verheißen hat, die ihn liehen, durch die Gnade und Liebe unsers Herrn Jesu Christi, welchem mit dem Vater und dem heiligen Geiste Ruhm, Macht und Ehre gebührt jetzt und allezeit und in alle Ewigkeit. Amen.
