IV. Kapitel
Wie ich mir von einem Manne, der fähig ist, in den Geist des Dichters einzudringen1 , sagen ließ, ist die S. 453 ganze Dichtung Homers ein Hymnus auf die Tugend2 , und alles, was nicht nebensächlich, diene diesem Zwecke, nicht zuletzt die Partie, wo er den Führer der Kephallener nackt aus dem Schiffbruche gerettet werden, allein zunächst die Königstochter vor dem einsam Erschienenen Ehrfurcht überkommen und auf den, der nackt sich zeigte, entfernt keine Makel kommen läßt, da ihn statt der Kleider die Tugend schmückte3 . Dann läßt er ihn auch bei den übrigen Phäaken in ein solches Ansehen kommen, daß sie von der Schwelgerei, der sie frönten, abstanden4 , alle auf ihn und sein Beispiel achteten, und es damals keinen Phäaken gab, der lieber etwas anderes hätte sein mögen als Odysseus, und zwar der aus dem Schiffbruche gerettete. Mit dieser Schilderung — so erklärte mein Interpret des dichterischen Genius — wollte Homer nur laut verkünden: „Ihr Menschen müßt euch um die Tugend bemühen, die selbst mit dem Schiffbrüchigen aus dem Meere schwimmt und den nackt ans Land Gespülten ehrwürdiger macht als die glücklichen Phäaken.“ — Und so verhält es sich in der Tat. Denn die anderweitigen Güter gehören ihren Besitzern nicht mehr als dem nächsten Besten und fallen wie im Würfelspiele bald diesem, bald jenem zu. Einzig und allein von den Gütern ist es die Tugend, die nicht geraubt werden kann; sie verbleibt dem Lebenden wie dem Toten. Daher scheint mir auch Solon zu den Reichen gesagt zu haben: „Doch nicht werden wir je ihnen für Güter und Geld Wechseln die Tugend; sie ist doch unumstößlich und dauernd, Während der Menschen Besitz wandert bald hierhin, bald dorthin5 .“
Diesen Versen ähnlich lauten auch die des Theognis, in denen es heißt, „Gott“ — wen immer auch er damit meint — „lasse den Menschen die Wagschale bald S. 454 dahin, bald dorthin sich neigen, lasse sie bald reich sein, bald darben6 .“
Und der Sophist von Chios7 hat sich irgendwo in seinen Schriften ähnlich zur Tugend und zum Laster geäußert; auch ihm müssen wir unsere Aufmerksamkeit schenken; denn der Mann ist nicht zu verachten. Sein Bericht — ich entsinne mich nur des Inhaltes; denn vom Wortlaut weiß ich nur soviel, daß er schlicht und in ungebundener Rede gesprochen — besagt etwa folgendes: Dem jungen, etwa euch gleichaltrigen Herkules seien in der Schwebe, welchen Weg er einschlagen solle, ob den beschwerlichen Weg zur Tugend oder den andern, ganz leichten, zwei Frauen erschienen, nämlich die Tugend und das Laster. Obschon sie geschwiegen, hätten sie schon in ihrem Äußern ihre Verschiedenheit verraten. Die eine, künstlich aufgeputzt und verschönt, sei vor Lust und Schmachtung fast vergangen und hätte in ihrem Gefolge einen ganzen Haufen von Vergnügen gehabt, habe diese und noch mehr angeboten, um so den Herkules an sich zu locken. Die andere sei mager und schmucklos gewesen und ernst ihr Blick, und sie hätte ganz anders gesprochen: sie habe nichts Leichtes und Angenehmes in Aussicht gestellt, sondern unzählig viel Schweißtropfen und Mühen und Gefahren allüberall zu Wasser und zu Lande; aber zum Lohne dafür würde er, wie jener Bericht lautet, ein Gott werden. Ihr nun sei Herkules bis zu seinem Tode gefolgt.
Ja, fast alle, die ob ihrer Weisheit gerühmt werden, haben mehr oder weniger, je nach Vermögen, in ihren Schriften der Tugend das Lob gesungen; ihnen muß man S. 455 gehorchen und ihre Worte im Leben zu verwirklichen suchen. Wer die Weisheit, die bei den andern nur in Worten sich äußert, in die Tat umsetzt, „der allein ist weise und verständig, indes die andern gleich Schatten entfliehen8 “. Es kommt mir so etwas vor, wie wenn ein Maler etwas Wunderbares, z.B. die Schönheit eines Menschen malte, wobei er selbst in Wahrheit dem nahe käme, den er im Bilde darstellte. Vor aller Welt die Tugend mit glänzenden Worten loben und ein langes Gerede darüber machen, für sich aber das Ergötzliche der Enthaltsamkeit und den Eigennutz der Gerechtigkeit vorziehen, das gleicht meines Erachtens dem Gebahren der Schauspieler auf der Bühne, die oft als Könige und Regenten auftreten, und doch weder Könige noch Regenten sind, ja vielleicht nicht einmal volle Freie sind. Sodann würde ein Musiker schwerlich es aushalten, wenn seine Lyra verstimmt wäre, oder ein Chorführer, wenn sein Chor nicht ganz harmonisch sänge9 . So wird jeder mit sich in Widerspruch kommen, der sein Leben nicht mit seinen Worten in Übereinstimmung bringt, sondern mit Euripides sagt: „Die Zunge hat geschworen, das Herz aber weiß von keinem Schwur10 “, und der darauf ausgeht, lieber gut zu scheinen, als gut zu sein. Das ist aber der Gipfel der Ungerechtigkeit, wenn man hier Plato folgen muß: Gerecht zu scheinen, ohne es zu sein11 .
So wollen wir also die Schriften, die die Grundlagen des Schönen lehren, benützen. Es sind uns aber auch vorbildliche Handlungen der Alten entweder in mündlicher Überlieferung erhalten oder in den Schriften von Dichtern und Geschichtschreibern niedergelegt, und auch den Nutzen hieraus dürfen wir nicht außer acht lassen. Ein Beispiel12 nach. Es schmähte S. 456 den Perikles irgendein Marktschreier, ohne daß dieser darauf achtete. Ja, einen ganzen Tag lang überhäufte das Lästermaul den Perikles schonungslos mit seinen Schmähungen; er aber kümmerte sich nicht um ihn. Als es dann bereits Abend und dunkel geworden war und jener immer noch nicht gehen wollte, ließ ihn Perikles mit einem Licht [nach Hause] geleiten, um sich so recht in der Schule der Weisheit zu üben13 . — Wieder ein anderer war über Euklid von Megara aufgebracht, hatte ihm den Tod angedroht und geschworen. Er seinerseits aber schwur, er werde ihn gewiß versöhnen und seinen Feind beschwichtigen14 . Wie wertvoll und wichtig, die Erinnerung an solche Vorbilder wachzurufen, sooft ein Mann vom Zorne erfaßt wird! Dagegen muß man auf der Hut sein vor der Tragödie, die einfach sagt: „Gegen Feinde bewaffnet Zorn die Hand15 .“ Vielmehr ist es das Beste, überhaupt nicht in Zorn zu geraten. Ist das nicht das leichteste, dann wollen wir ihn wenigstens mit unserer Vernunft zügeln und ihn nicht weiter austoben lassen.
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Offenbar einer der Lehrer des Basilius [in Cäsarea, Konstantinopel oder Athen]. ↩
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Vgl. Horaz, epist. I,2; Dion Chrysostomus or. 43. ↩
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Vgl. Odyssee VI, 135 ff ↩
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Vgl. ebd. VIII. 248—249. ↩
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Plutarch, vita Solonis c. 3. — Die Verse finden sich auch unter den Elegien des Theognis [v. 1180] ↩
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Die Verse [Eleg. 157—158] lauten: „Ζεὺς γάρ τοι τὸ τάλαντον ἐπισσέπει ἄλλοτε ἄλλως, ἄλλοτε μέν πλουτεῖν, ἄλλοτε μηδὲν ἔχειν.“ ↩
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Prodikus, Zeitgenosse des Sokrates u. Xenophon, Schüler des Protagoras, gab sich vornehmlich mit der Jugenderziehung ab. Sein berühmtes σύγγραμμα περὶ τοῦ 'Ηρακλέους war ein Teil seines größeren Werkes, das den Titel ὧραι führte. — Basilius scheint, wie aus der Zitierung des Prodikus und seiner Sohrift ersichtlich, hier die Erzählung Xenophons, Memorabilia, II, 1.21 vor Augen gehabt zu haben [wie ähnlich schon Cicero, de officiis 1, 82]. ↩
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Odyssee X, 495. ↩
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Basilius mag hier an die Stelle in Platons Gorgias 482 B gedacht haben, in der ganz ähnliche Gedanken zu lesen sind. ↩
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Hippol. 612. ↩
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Plato, de republ. II, 861 a: ἑσχάτη γὰρ ἀδικία δοκεῖν δίκαιον εἶναι μὴ ὄντα. Vgl. Gorgias 527 B. ↩
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Mit kleinen Abänderungen erzählt hier Basilius eine Erzählung des Plutarch über Perikles [c. 5] ↩
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Wörtlich genau: P. begleitete ihn nach Hause, „um sich seine Übung in der Weisheit nicht beeinträchtigen zu lassen“. ↩
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Plutarch, de fraterno amore VIL 907, und de ira cohibenda VII, 812. Euklid aus Megara war ein Schüler des Sokrates und der Stifter der sog. Megarensischen Schule. ↩
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Vgl. Euripides, Rhesus 84. Der Vers lautet: „ἁπλοῦς ἐπ ἐχθροῖς μῦθος ὁπλίζειν χέρα.“ ↩
